Hierarchie der Versager

-- ,,Wenn das so wäre, wie Gumbrecht das sieht, dann wären ganz andere Leute dabei!'', sagte Lutz Willach.

Lutz, Cedrik und Sylvia diskutieren vor dem Kaffeeautomaten auf dem Flur vor dem Seminarraum.

-- ,,Dr. Winkelmann beispielsweise!'', sagt Sylvia.

-- ,,Genau!'', unterstützt sie Cedrik sofort, ,,Seit ich in der Firma bin hat der garantiert noch keine Zeile Code geschrieben! ...Ich frage mich immer, was der eigentlich macht! Immer wenn ich zu dem ins Zimmer komme, sitzt der schlafend vor seinem Computer bei laufendem Bildschirmschoner!'', sagte Cedrik.

-- ,,Mir sagte er mal, dass er nachdenke!'', sagte Sylvia, ,,Ich hatte ihn einfach frech weg gefragt, ob er Mittagsschlaf halte. ...Kein Spur von schlechtem Gewissen!''

Cedrik und Lutz kamen dann fast gleichzeitig auf Sylvias Chef zu sprechen.

-- ,,Gumbrecht kann nicht recht haben, denn sonst wäre dein Herr Wiedenbach auf jeden Fall hier!'', sagte Lutz.

-- ,,Also erstens ist es nicht `mein' Herr Wiedenbach und zweitens war er ausgewählt hierher zu kommen!''.

Sie sei gewissermaßen stellvertretend für ihn eingesprungen. Sie hätte das Gefühl gehabt, dass dies den Zuständigen der HR überhaupt nicht gefallen hätte. Aber Herr Wiedenbach habe nun mal halt keine Zeit gehabt. Eigentlich hatte ihr Chef Zeit gehabt. Jedenfalls was die Firma betraf. Privat hatte es ihm nicht in den Kram gepasst. Aber sie schwieg und sagte darüber kein Wort zu Cedrik und Lutz, auch wenn es ihr auf der Zunge brannte. Ihr Verhältnis zu ihrem Chef war eine Mischung aus Verachtung und Loyalität. Sie hasste es beispielsweise, wenn er sie mit Arbeiten bombardierte, die er eigentlich selbst machen müsste, oder die eine Sekretärin erledigen müsste. Arbeiten, die ihr keinerlei Anerkennung brachten. Sie musste sich anschließend noch rechfertigen, was sie selbst eigentlich machte. Überhaupt nicht ausstehen konnte sie seine Arroganz. Wenn er sie von oben herab behandelte. Wenn er so tat, als sei er ihr intellektuell weit überlegen.

-- ,,Also mich würde auch einmal interessieren, was der den ganzen Tag macht!'', sagte Cedrik.

-- ,,Auf jeden Fall hat er mit die meisten Überstunden in der Firma!'', sagte Lutz.

-- ,,Fast Vierhundert im letzten Jahr!'', präzisierte Sylvia.

-- ,,Wann macht der die alle?'', wollte Lutz wissen.

Er sei bis spät abends da und häufig auch samstags, sagte Sylvia. Einmal war sie mit ihm samstags anwesend gewesen. Ein wichtiges Kundenprojekt drohte zu scheitern, deshalb wurden in der Entwicklung für mehrere Wochen in Folge Samstagarbeit angeordnet. Ihr Chef meinte damals zu ihr, dass es gut sei, wenn sie sich solidarisch zeigten und auch erschienen. Fachlich war es überhaupt nicht notwendig gewesen und sie waren auch die einzigen ihrer Abteilung gewesen. Von den anderen, die hektisch und nervös an diesem Tag wirkten, wurde sie mehrmals gefragt, was sie und vor allem ihr Chef in der Firma machten. Einer fragte, ob bei ihrem Chef vielleicht zu Hause die Heizung ausgefallen sei? Vielleicht habe er auch eine schlechte Nacht gehabt und müsse nun noch ein wenig Schlaf nachholen, bemerkte daraufhin ein anderer. Die ersten zwei Stunden sah sie ihren Chef an diesem Morgen nur am Kopierer. Einladungen, Protokolle und Flugblätter, alles für den FC Esperdingen, deren Präsident er war. Betritt man sein Büro hat man das Gefühl, das Vereinslokal dieses Clubs zu betreten. Bilder, Plakate, Trikots und Pokale zierten Wände und Schränke. In den ca. 15 Stunden pro Woche, die er in meist sinnlosen Besprechungen verbringt, wird er meist erst richtig munter, wenn ihn jemand im Anschluss auf den Verein anspricht. Für seinen Verein steht er Tag und Nacht zur Verfügung, also auch während seiner Arbeitszeit. Deshalb findet sich in den Briefköpfen des Vereins sowohl seine private als auch seine Büronummer. Wenn er mit rotem Kopf und voller Begeisterung am Telfefonieren ist, dann weiß sie sofort, dass es sich um Fußball dreht. Auch wenn man es sich nur schwer vorstellen kann, wenn man ihn schwerfällig durch die Gänge schleichen sieht, so musste er einmal ein richtiges Talent gewesen sein. Verschiedene Bilder und Utensilien in seinem Büro bezeugen, dass er sogar einmal in der 2. Bundesliga gespielt hatte. Alkohol und Bewegungslosigkeit hatten ihn in den letzten Jahren kontinuierlich aufgebläht. Seine Hüften waren weiblich, dachte Sylvia, ebenso wie seine Brüste, die wenn fest wären, vielen Frauen genügen würden. Er hatte sich gewehrt in die Toskana zu fahren, denn in dieser Woche gab es die Neuwahlen zum 1. Vorsitzenden. Er musste anwesend sein, denn die Statuten ließen keine Wahl in Abwesenheit zu.

An diesem Samstag hatte er bestimmt 500 Blatt für seinen Verein fotokopiert. Dann hatte er sich in sein Büro verzogen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte er die Tür offen stehen lassen. Eigentlich erwartete sie, dass sie ihn bei wichtigen Vereinsarbeiten stören würde, als sie zu ihm ins Büro ging. Sie hatte eine Frage zur Arbeit. An diesem Samstag war es ungewöhnlich, beja inahe unheimlich leise im Gebäude. Sylvia schlich durch die Räume als ginge es darum diese Ruhe nicht zu stören.

Eigentlich wunderte sich sich, als er zusmamenschreckte, als sie in sein Zimmer kam. Er wollte halt nicht, dass sie mitbekam, dass er schon wieder für seinen Verein arbeitete. Aber dann wurde ihr bewusst, dass er seinen Pullover verkrampft über seine Hose zog und anschließend verkampft auf seiner Maus rumklickte. Als sie auf seinen Bildschirm sehen konnte, war sie sich sicher, dass in diesem Moment ein pornografisches Bild verschwand.

Ja, dachte Sylvia, ihr Chef hätte an diesem Seminar teilnehmen müssen. Aber sie selbst passte überhaupt nicht in die Zielgruppe, wenn es wirklich so ist, wie Gumbrecht es sieht.

© Bernd Klein