Die Sonne stand schon tief, aber der Strand leerte sich nur zögerlich. Für diejenigen, die Richtung Parkplatz aufbrachen, fanden sich meistens noch Neuankömmlinge, welche die freigemachten Plätze schnell wieder füllten. Leute, die ihren Tag bei der Arbeit verbracht hatten und nun noch schnell die Wonnen des Strandes genießen wollten. Vorwiegend Familien begannen ihre zahlreichen Utensilien zusammenzupacken. Manche Eltern, genervt von den Anstrengungen des harten Badetages, durchforschten mit ihren kleinen Kindern den Strand, um verlorene Förmchen oder in schlimmeren Fällen einzelne Sandalen, Socken oder gar Badehosen zu suchen. Vieles würden sie nicht mehr finden, würde unauffindbar im Sand des ehemaligen Burggrabens der Sandburg schlummern und viel später von anderen Kindern als Schatz geborgen werden oder aber mit einem lauthalsen `Igitt ein Stinksocke' oder `I eine dreckige Hose' gefunden werden. In jedem Fall werden sie stolz ihren Eltern die Trophäen aus ihren frisch gegrabenen tiefen Sandlöchern oder ihren ausgedehnten Bewässerungssystemen präsentieren.
Cedrik verfolgte über den Buchrand, wie Frauke barfuß tänzerisch zwischen den Decken und Matten über den Strand schlenderte. Noch nie war ihm aufgefallen, wie rhythmisch der menschliche Gang war. Er beobachtete, wie sich der jeweils vordere Fuß mit der Ferse zuerst in den Sand grub, dann abrollte und, wenn das Bein hinten war, sich mit den Zehen -- kleine Sandfontänen hinter sich werfend -- wieder abstieß, um Schwung für die Gewichtsübernahme ans andere Bein zu gewinnen. Ein Bein immer fest am Boden, während das andere schwingt. Ihr Schwungbein bildete fast einen rechten Winkel, oder war es weniger, dachte Cedrik. In Wellenbewegungen schienen die Muskeln unter ihrer weißen Haut unter Waden und Oberschenken zu wandern. Dann als sie wieder aus der zuerst eingeschlagenen Richtung zurückkam, ging sie so dicht an ihm vorbei, dass er kleine blonde Härchen sehen konnte und trotz seiner wissenschaftlichen Neugierde bemerkte Cedrik nun, dass es sich um Frauenbeine handelte und dass dieses Paar nicht nur äußerst effizient und funktional war sondern auch schön und wohlgeformt. Frauke lief weiter in Richtung Pinienwald und einen Augenblick lang spürte Cedrik einen Reflex aufzuspringen und sie zu begleiten, aber dann dachte er, dass es zu aufdringlich sein könnte, und dass sie doch vielleicht lieber alleine sein wolle.
Cedrik hatte die ganze Zeit etwas abseits von dem Rest der Gruppe alleine unter einem Sonnenschirm gesessen und in Camus ,,Der Fremde'' gelesen. Eigentlich müsste man eher sagen, dass er versuchte zu lesen, aber er war nur wenige Abschnitte weiter gekommen, denn das ungewohnte Strandtreiben störte seine Konzentration. Direkt neben ihm befand sich eine Familie mit drei Kindern. Die Eltern der Kinder störten ihn aber weit mehr, als die Kinder selbst. Ihre ständigen Belehrungen gingen ihm auf die Nerven. Als sich der kleine Junge neben seinem Handtuch niederließ, um im Sand zu buddeln, bemerkte Cedrik das nicht. Aber dann begann die Mutter mit ihrem ,,Nicht da, du störst den Mann beim Lesen!'' oder ,,Der Mann wird bestimmt gleich böse!''. Der Junge wollte aber nicht seine bereits begonnen Bauwerke aufgeben und maulte. Dann begann das Baby der Familie zu heulen, wohl vom wütenden Ton der Mutter erschrocken. Und über allem tönte der Bass des Vaters, verärgert, dass er sich nicht entspannen könne.
Von den anderen Seminarteilnehmern kamen anfangs keine Störungen, denn sie waren weit genug weg. Nur Frauke und Sylvia, die sich auch von den anderen getrennt hatten, lagen direkt vor ihm, aber sie waren still. Frauke in ihrem gelben Badeanzug schmorte neben Sylvie in der Sonne und beide schienen zu träumen, richtig in Urlaub zu sein. Während Sylvias Hautfarbe mehr an Afrika als an Deutschland denken ließ, erschien Frauke weißer denn je im gelblichen Sand.
Zuerst störte Gumbrecht diesen Frieden, als er aus dem Schatten des großen Sonnenschirmes herausrückte und sich neben Sylvia im Schneidersitz auf dem Sand niederließ. Aus seiner Badehose, deren verblasste Farben auf eine lange Nutzungsdauer schließen ließen, rankten sich seine schneeweißen, schwarzbehaarten dürren Beine, die es nicht gewohnt waren, in der Öffentlichkeit präsentiert zu werden. Als einziger trug er noch ein Hemd, ein kurzärmeliges Hawaiihemd, welches er sich anscheinend extra für das Toskana-Seminar zugelegt hatte.
Traumhaft sei es hier, sagte Gumbrecht. Frauke hielt ihre Augen fest geschlossen und Sylvia nickte zaghaft, so als wolle sie Gumbrecht nicht ermuntern weiter zu machen. Er könne gar nicht verstehen, dass Garda nicht habe mit ihnen kommen. Ja, das habe sie auch nicht verstehen können, sagte Sylvia. Es habe so geklungen, als ginge sie nie an den Strand. Jedenfalls nicht an diesen Strand, schränkte Gumbrecht ein. Sie hasse diesen Strand, habe sie gesagt. Sylvia war fast willens ihre Augen zu öffnen, als Gumbrecht abrupt das Thema wechselte. Gumbrecht fand es plötzlich notwendig in der Hitze des Strandes die Themen des Seminars zu resumieren, so als befänden sie sich in einer offiziellen Besprechung, die er leitete. Sylvia begann sich demonstrativ nach ihrer Sonnencreme umzuschauen und Frauke kneifte ihre Augen so fest zu, dass es fast schmerzte.
Cedrik konnte verstehen, dass sie hier am Strand nicht nochmals über die Inhalte des Seminars diskutieren wollten. Er wollte auch einfach nun seine Freizeit genießen. In der Pause hatte Sylvia gescherzt, nachdem sie im Programmheft der ,,Coat-It'', gestöbert hatte, dass sie wohl besser den Kurs FFF belegt hätten. FFF stände für ,,Fabelhafte Firmen Ferien''. Burbacki nahm sich daraufhin sofort auch interessiert einen Prospekt und sagte kurz darauf, dass FFF doch für ,,Fehler-Freie-Fertigung'' stünde. Sylvia schaute ihn entsetzt an und fragte, ob er eigentlich wüsste, was Scherze seien. Frauke korrigierte Burbacki und sagte, dass FFF eigentlich für ,,Fraukes fabelhalte Ferien'' stehe, aber sie hätten ja leider diesen Taschen-Kurs belegt. BAG stehe für ,,Bridging all Gaps'' und habe mit Taschen nichts zu tun, hatte sie Burbacki verbessert. Frauke und Sylvia schauten ihn nur verächtlich an, und ließen Burbacki alleine im Flur vor dem Seminarraum stehen. Doch es hatte etwas mit Taschen zu tun, dachte Cedrik am Strand, während Gumbrecht auf Sylvia einredete. Mit Taschen und Modeschau. Eine Modeschau der Ideen. Kaum eine Folie ohne Zitat irgendeiner berühmten Persönlichkeit. ,,Lebe und sei die Veränderung, die du in der Welt wünschst.'' wurde Gandhi zitiert und Cedrik hatte eingewendet, dass in ihrer Firma zumindest eigene Wünsche nicht erwünscht seien. Man müsse die Wünsche der Geschäftsleitung leben. Cedrik mochte den Spruch Gandhis. So wie auch all die anderen Zitate. Tiefgehende Weisheiten, die allerdings plakativ aneinander gereiht verpufften. Selbst Schopenhauer wurde zitiert mit ,,Unsere Gedanken sind unser Schicksal!'' Aber was dann folgte, hatte wenig mit Philosophie zu tun. Garda hatte holistische Heilweisen für ,,business Entscheider'' geboten. Dass man alles selbst in der Hand habe, oder besser in seinen Gedanken. Die ungeheuere Macht der Gedanken. Jeder könne entscheiden, diese Macht zu seinem Nutzen oder Schaden einzusetzen. Cedrik hatte ihr widerholt während des Seminars widersprochen. Das sei Schwarz-weiß-Malerei, was sie betreibe. So einfach sei es nicht.
-- ,,Glauben Sie denn, man könne etwas erreichen, wenn man es sich nicht fest vornimmt und wenn man nicht konsequent daran arbeitet?'', hatte sie ihn festzunageln versucht.
-- ,,Wenn man reiche Erben, Lottogewinner und sonstige Glücksritter ausnimmt, ist es eine notwendige aber nicht hinreichende Bedingung für Erfolg!''
-- ,,Sehen Sie! Das meine ich!'', hatte sie daraufhin triumphiert.
-- ,,Ich sprach von einer `Notwendigen aber nicht hinreichenden Bedingung', d.h. also eine Voraussetzung ohne die ein Sachverhalt nicht eintritt. Es müssen noch andere Rahmenbedingungen vorliegen, die in diesem Fall meist vom Zufall abhängen, dass der Erfolg eintritt. Sie tun so als handele es sich um hinreichende Bedingungen. ...''
Jetzt käme wohl der Mathematiker in ihm durch, lästerte Garda, aber Cedrik, sagte, dass dies mehr exakt formulierter gesunder Menschenverstand sei. Dann fragte ihn Garda, was er ihr eigentlich sagen wolle. Sie verstehe ihn nicht.
-- ,,Okay, ganz einfach! Ein simples Beispiel: Nach ihren rosigen Folien, braucht jemand der völlig unmusikalisch ist, sich nur in den Kopf zu setzen ein großer Pianist zu werden und schon läuft alles von selbst ...''
-- ,,Klavierstunden muss man schon nehmen und hart üben ...'', sagte Garda, die damit die Diskussion abrechen wollte.
Damit würde sie leugnen, dass es so etwas wie Begabung gebe, sagte Cedrik. Aber ihm ginge es nicht darum. Ihn störe, dass, so wie sie es darstelle, jemand mit Begabung automatisch, wenn er den nötigen Fleiß entwickele zum Erfolg gelange. Das sei wirklichkeitsfern.
Gumbrecht mischte sich ein und unterstütze Garda, indem er sagte, dass die Kunst ausgenommen werden müsse, dort gelten andere Bedingungen.
-- ,,Genau! Dort ist es noch schlimmer als sonst.'', ereiferte sich Cedrik. ,,Dort gilt das The-Winner-Takes-It-All-Prinzip. Da gibt es hunderte, vielleicht tausende, von Pianisten mit Weltklasse-Niveau, aber die Leute kaufen lieber eine CD mit einer beschissenen Monoaufnahmen eines Arthur Rubinstein als eine CD eines neuen erfolgversprechenden aber noch nicht in den Olymp der Superstars erhobenen Pianisten. Da zahlen Leute, die von ihrem musikalischen Gehör her Mühe haben das Geräusch einer Kreissäge von einer Trompete zu unterscheiden 80 oder mehr Euro um eine international bekannte Jazz- oder Rockband live zu erleben, bringen ihren Arsch aber nicht hoch, wenn es im Jazzkeller um die Ecke ein kostenloses Livekonzert einer erstklassigen heimischen Band gibt.''
In der Musik kenne sie sich nicht so aus, aber die berühmten Schauspieler seien aber wirklich besser, beteuerte Garda.
-- ,,Besser als die anderen Schauspieler, die sie nicht kennen?'', fragte Cedrik. ,,Ein paar Dutzend oder ein paar hundert Schauspieler dominieren doch Weltwelt die Filmproduktionen. Sie scheffeln die Millionen, während die Schauspielerei sich für tausende von anderen, die mindestens ebenso begabt sind, als brotlose Kunst darstellt. Sie haben vielleicht noch härter gearbeitet, sind weitaus begabter, aber ihr Fehler ist, dass sie nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Statt neuen eine Chance zu geben, statt ein Risiko einzugehen, entscheiden sich die Regisseure allzu häufig fürs Bewährte für die Publikumslieblinge. Da nimmt man lieber einen in die Jahre gekommenen Hollywood-Schönling als begehrenswehrten Liebhaber, auch wenn sie lächerlich wirken ...''
-- ,,Oh, Sie stehen also auf attraktive Männer! Wusste ich gar nicht!'', witzelte Willach und fügte dann hinzu, dass er lieber eine attraktive Nicole Kidman sehe.''
-- ,,Und die am liebsten nackt!'', sagte Wolff, und ließ offen, ob er das für sich oder für Willach meinte.
-- ,,Wenn das alles ist, was sie an der Schauspielerei bewundern, dürften Sie ja überhaupt keine Probleme mit neuen unbekannten Schauspielerinen haben?'', entgegnete ihm Cedrik bissig.
-- ,,Hätte ich auch nichts dagegen, wenn bestimmte Damen mal ein wenig schauspielern würden!'', bemerkte Wolff und schaute dabei Frauke, Sylvia und Garda an.
-- ,,Sie sollten sich schämen!'', sagte Garda und dann sagte sie zu Cedrik, dass es in ihrem Seminar nicht um Kunst, sondern um Firmenkultur gehe.
-- ,,Genau! Und in der Firma braucht es noch nicht einmal Begabung um nach oben zu kommen.'', entgegnete Cedrik unverzüglich, so als habe er nur auf diesen Einwand gewartet.
-- ,,Das ist doch lächerlich!'', erboste sich Wolff. ,,Sie wollen also behaupten, dass man ohne jegliche Qualifikation nach oben kommen kann?''
-- ,,Sie haben recht!'', sagte Cedrik ,,Man braucht Qualifikationen: Einen starken Ellenbogen verbunden mit dem passenden Charakter diesen auch rigeros einzusetzen. Es darf einen nicht stören, wenn ...''
-- ,,Wir sind hier um etwas zu lernen und nicht um weltanschauliche Haare zu spalten!'', hatte Willach die Diskussion barsch unterbrochen und Garda nutzte die Gelegenheit mit der nächsten Folie und einem Zitat von Abraham Lincoln fortzufahren: ,,Wer im Leben kein Ziel hat, verläuft sich.''
-- ,,Der ist doch nur neidisch, weil er selbst nicht vorwärts kommt!'', brummelte Wolff vor sich hin, während Garda ihren Vortrag fortführte.
Ihm habe das Seminar schon jetzt viele tollen neuen Denkanstöße gebracht, ereiferte sich Gumbrecht am Strand neben Sylvia, während Frauke weiterhin ihre Augen zusammenkniff. Typisch Gumbrecht, dachte Cedrik. Tags zuvor, sah er noch keinen Sinn in dem ganzen Seminar und hielt es für eine sinnlose Geldverschwendung, nun dozierte er, als sei er der Seminarleiter oder sogar derjenige, der das GAP-Prinzip ausgeheckt habe.
Cedrik wollte nur in seinem Buch lesen und nicht mehr über diesen Mist nachdenken, aber Gumbrecht verhinderte es erfolgreich. Frauke ging es wohl ebenso. Egal wie fest sie auch ihr Augen zusammenkniff, Gumbrechts Gefasel über die Erweckung schlummernder Kreativität konnte sie so nicht entgehen. Wollte sie weiter träumen, müsste sie sich noch die Ohren zuhalten. Als Gumbrecht dann über die immense Potentiale schulmeisterte, die Firmen durch Prokrastination verloren gingen, mischte sie sich doch ein und fragte freundlich aber bestimmt, ob er diese Diskussion nicht bis zum nächsten Tag aufschieben könne. Jetzt sei Feierabend. Daraufhin war Gumbrecht richtig verärgert. Cedrik und die beiden Frauen hofften, dass er beleidigt wegziehen würde, aber er hielt ihnen nun einen Vortrag über Arbeitseinstellungen. Diese Beamtenmentalität könne er überhaupt nicht verstehen. Wenn man doch etwas faszinierend finde, dann beschäftige man sich doch damit, egal ob man dafür bezahlt werde oder nicht. Er habe recht, pflichtete ihm Sylvia bei, aber wie er gesagt habe ,,wenn man von etwas fasziniert sei'' und dieses Thema fände sie so prickelnd wie einen Zahnarztbesuch. Oder eine Abteilungsbesprechung von Gumbrecht, dachte Cedrik. Ob diese Arbeitseinstellung auch beinhalte, faszinierende Dinge während der Arbeitszeit zu tun, für die man nicht bezahlt würde, fragte ihn Sylvia und Gumbrecht wich schulbewusst ihren Blicken aus. Damit hatte sie ihn zumindest kurzfristig zum Schweigen gebracht.
Kaum schwieg Gumbrecht, erschien Dr. Wolff, der wohl Gumbrecht nicht alleine das Feld überlassen wollte. Wolff platzierte sich neben Frauke mit den Worten, dass bei ihnen mehr los zu sein scheine, was Frauke mit einem ,,leider'' und Sylvia mit einem ,,der Schein trügt'' kommentierte. Beide blieben demonstrativ liegen und behielten ihre Augen geschlossen. Aus halb geschlossenen Augen hatte Frauke mehr gespürt als gesehen, wie Wolff sie und Sylvia unverhohlen musterte, wie er mit begehrlichen Blicken, wie ein pflichtbewusster Landvermesser, jeden Fleck ihrer Körper durchkämmte, wie er Distanzen, Richtungen und Winkel bestimmte und verglich. Gleichzeitig peilte er drei junge Frauen an, die nur wenige Meter von ihnen entfernt akrobatische Übungen veranstalteten. Sie nutzten einen kleinen freien Fleck des Strandes, um Handstand und Ratschlagen zu üben. Wie ein orientalischer Scheich beäugte Wolff seinen Wunschharem.
So einen Strand könnte man auch bei ihrer Firma gebrauchen, sagte Wolff zu Gumbrecht, der geometrische Figuren in den Sand ritzte. Er werde es mal bei Baumeister, dem Entwicklungsleiter, beantragen. Wäre doch Klasse für eine verlängerte Mittagspause. Das würde die Arbeitsmoral und damit auch die Arbeitsleistung steigern.
Frauke richtete sich daraufhin auf und bemerkte sarkastisch, dass es bei den Männern -- wobei sie Wolff abschätzig anschaute -- sicherlich Einiges steigern würde, wenn die weiblichen Mitarbeiterinnen in Strandmoden herumliefen, aber garantiert nicht die Arbeitsleistung.
Auch Sylvia, die wohl gesehen hatte, wie er die drei Mädchen beäugt hatte, sagte, während sie sich aufrichtete:
-- ,,Erinnert sie an ihre Töchter?''
Ihr bissiger Tonfall und der verkniffene Gesichtsausdruck machten klar, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelte.
-- ,,Meine Töchter sind noch nicht so alt, die hier sind schon über achtzehn ...''
-- ,,Bezweifle ich!'', sagte Sylvia.
-- ,,Und selbst wenn sie volljährig wären, was würde das bedeuten?'', fragte Frauke bissig.
-- ,,Ist doch klar!'', sagte Wolff mit einem süffisanten Hirschgrinsen.
Wolff glaube, dass ihm dies das Recht zu seiner dreisten Fleischbeschau gibt, formulierte Cedrik eine bissige Antwort, die er aber für sich behielt. Wohl wissend, dass auch er, wenn er einen freien Blick in die Richtung gehabt hätte, wahrscheinlich hin und wieder hingeschielt hätte, aber anders als Wolff, dezent, so dass es garantiert keiner bemerkt hätte. Cedrik konnte nicht hören, was Frauke zu Sylvia flüsterte.
-- ,,Die wollen doch bewundert werden.'', wehrte sich Wolff, ,,Sonst würden sie es doch nicht hier mitten am Strand machen!''
-- ,,Ja, wegen ihrer akrobatischen Leistungen aber nicht als Sexobjekte'', sagte Frauke.
-- ,,Genau, ich habe mich natürlich nur für die sportliche Leistung interessiert!'', sagte Wolff mit einem zweideutigen Grinsen. ,,Außerdem schielen doch alle Männer ab und zu hin.''
Als er sah, dass Fraukes Blick bei seinem Kommentar zu Cedrik wanderte, fügte er noch hinzu:
-- ,,Auch Cedrik. Der verbiegt sich doch auch seine Augen über seinen Buchrand hinweg ...wenn es keiner merkt!''
-- ,,Eben, wenn es keiner merkt!'', sagte Sylvia.
-- ,,Man darf also schlecht sein, solange es keiner merkt?'', spöttelte Wolff.
-- ,,Wenn ein Mann so etwas nicht in der Pubertät gelernt hat, dann ist es jetzt zu spät!'', sagte Sylvia zu Frauke.
-- ,,Manche kommen nie aus der Pubertät heraus und dann wird es echt gefährlich!'', erwiderte Frauke mit einem verachtenden Blick in Richtung Wolff.
Frauke war daraufhin aufgestanden, so als könnne sie weitere Sprüche von Wolff nicht mehr ertragen. Aber sie sagte nur, dass sie ein wenig über den Strand wandern wolle.
Als Dr. Wolff kurz darauf auch aufstand, fürchtete Cedrik, dass er Frauke folgen wollte. Cedrik überlegte kurz, ob er nicht zu Frauke gehen solle, auch wenn er das Gefühl hatte, dass sie eigentlich allein sein wollte. Er würde sie gewissermaßen vor Wolff schützen, obwohl er nicht wusste, ob sie diesen Schutz überhaupt wünschte oder brauchte. Liefe er schnell genug auf dem direkten Weg zu ihr, hielte sich Dr. Wolff vielleicht gar zurück, aber dies kam ihm sehr unwahrscheinlich vor. Aber die Vorstellung, wie lächerlich es wirken würde, wenn sie beide hinter ihr herdackelten, ließ ihn auf seinem Platz verharren.
Cedrik sah, wie Wolff Frauke einholte wie er lachend und mit weit ausladenden Armbewegungen auf sie einredete. Aber er glaubte auch gesehen zu haben, dass Frauke zusammenzuckte, als er sie einholte und auf sie einredete. Frauke beginnt deutlich schneller zu gehen, fast schon ein Laufen. Ein Slalom zwischen den immer dichter liegenden Strandmatten und Decken. Wolff gelingt es nicht so erfolgreich den Hindernissen auszuweichen und hinterlässt wie einen Kondensstreifen Schimpfkanonaden. Er entfacht einen Regenbogen europäischer Flüche, als er ahnungslose Sonnenbadende im Laufen erschreckt, mit Sand bewirft oder kurz neben ihren Köpfen auf die Matten stampft. Frauke macht halt, als sie vor einer Reihe Liegen ankommt, wo ein einfaches Durchkommen nicht mehr möglich scheint. Sie sieht wohl ein, dass sie ihn nicht los werden kann. Deutlich langsamer geht sie Richtung Meer, was Wolff wohl als Aufmunterung auffasst.
Am Meer gehen sie nun nebeneinander. Sie watet knöchelhoch durch die leichten Brandungswellen.
Wolff redet auf sie ein, während er in italienischer Manier mit seinen Armen und Händen in der Luft rumfuchtelt. Ihre Gesichter kann er nicht sehen, da sie in entgegengesetzte Richtung laufen. Nur wenn Frauke Richtung Wolff schaut, kann er deren Gesicht sehen. Einmal glaubte er ein Lachen auf die Entfernung zu erkennen. Cedrik glaubte zu wissen, was er zu ihr sagte. Dinge die Frauen gerne hören. Sprüche, die bei Don Juans und Casanovas immer zu Eroberungen führen. Er würde ihr ins Ohr flöten, was sie für eine außergewöhnliche Frau sei. Er habe ihr dass schon immer sagen wollen, aber die Arbeit habe ihm dafür keine Zeit gelassen. Wenn es nach ihm ginge, würde sie mit ganz anderen Arbeiten in der Firma betraut sein. Was sage er, ihre Firma sei gar nicht gut genug für sie. Aber Frauke würde doch nicht so blöd sein, dass sie auf die Komplimente des berüchtigsten Frauenjägers der Firma hereinfallen würde, sagte sich Cedrik.
Als Frauke und Wolff stehen geblieben waren, stellte sich Cedrik vor, dass sie zu Wolff sagte, dass sie seinen Worten nicht trauen könne. So schmeichelte er doch allen Frauen doch wohl alle Frauen.
Cedrik beobachtete wie Wolff seine Arme in einer Geste der Offenheit in Hüfthöhe ausbreitete. Seine Handflächen ihr zugewandt.
-- ,,Auch wenn ich es schon einmal zu anderen Frauen gesagt haben sollte, so sind sie doch die erste, die es wirklich verdient!'', würde Wolff nun sagen, um das Eis zu brechen.
Doch dann plötzlich spürt Cedrik, wie sich sein Puls vor Freude beschleunigt. Aprupt dreht sie sich um und läuft in entgegengesetzter Richtung. Wolff zögert einen Augenblick und läuft ihr dann nach, überholt sie und blockiert ihr sogar den Weg. Sie weicht aus und läuft nun über den Strand in direkter Richtung zu ihrer Matte. Wolff bleibt am Meeresufer stehen.
Aber sie geht nicht an ihren vorigen Platz, sondern geht direkt zu Cedrik. Sie fragt ihn, ob es ihn störe, wenn sie sich zu ihm setzte.
-- ,,Keineswegs! ...Ganz im Gegenteil'', während er auf seiner Matte zur Seite rutschte, um ihr Platz zu machen.
Wenn Wolff, der mittlerweile langsam zurücktrottet nun käme, würde er ihm sagen, dass er sich woanders hinsetzen solle. Aber seine Sorge ist umsonst. Wolff würdigt weder ihn noch Frauke eines Blickes, sondern lässt sich nun neben Sylvia nieder, die mittlerweile alleine war.
Als Cedrik sein Buch in seinen Rucksack steckt, sagt sie, dass er wegen ihr nicht aufhören müsse zu lesen.
-- ,,Es ist eh viel zu heiß zum lesen!'', sagte er
-- ,,Schlimmer als die Hitze ist Dr. Wolff. ...''
Cedrik, ebenso blass wie Frauke, lächelt erleichtert und verständnisvoll, während er sich verlegen seinen dünnen kurzen Bart kratzt.
Er sähe nicht aus wie ein Geißbock und außerdem sei sein Haar nicht rot sondern nur rötlich blond, hatte Frauke Cedrik einmal verteidigt, als zwei Kolleginnen ihn mit dem gehörnten Tier verglichen. Wenn er nur den Bart abrasierte und seine zerzausten Haare schneiden ließe, dann sähe er gut aus. Naja, sie stehe eher auf richtige Männer, sagte eine der beiden und die andere lachte schallend.
-- ,,Was für ein süßes Baby!'', sagte Frauke, als die Mutter neben ihnen ihr Baby in die Arme nahm, um ihm ein Gläschen zu geben.
Während sie sich zur Seite drehte, stützte sie sich mit ihrer Hand von Neuem ab. Ihre Hand nun direkt neben Cedriks. Ihre Zeigefinger berührten einander.
Cedrik widerstand dem Gefühl, ihr zu widersprechen und zu sagen, dass die Kleine ein entsetzlicher Schreihals sei. Stattdessen sagte er nur:
-- ,,Die Kinder sind okay! Aber die Mutter! Eine Katastrophe! Man könnte meinen, die hätte die Kinder adoptiert.''
-- ,,Der Vater ist irgendwie komisch!'', pflichtete ihm Frauke bei, ,,So einem würde ich kaum so tolle Kinder zutrauen!''
-- ,,Aber irgendwie muss er doch nett sein! ...Ich meine bei solchen Kinder ...''
-- ,,Das muss nichts heißen, mein Vater hatte ja auch einen netten Jungen bekommen!'', sagte Cedrik mit einem überdeutlichen Lachen, dass klar machen sollte, dass er nicht ernst meinte, was er sagte.
-- ,,Heißt das, das du ...'', sie stockte, weil sie ihn plötzlich geduzt hatte.
Cedrik hatte beinahe unmerklich den Druck seiner Hand auf ihrer erhöht, ohne dass sie zurückwich.
-- ,,Ist schon in Ordnung!'', sagt Cedrik nickend.
-- ,,...Also heißt das, dass du kein guter Junge, oder dass dein Vater kein lieber Vater war?''
-- ,,Was meinst du?''
Frauke schaute plötzlich sehr ernst und überlegend, so als bereitete ihr eine Antwort auf die Frage Schwierigkeiten.
-- ,,Deinen Vater kenne ich nicht, aber du warst ganz bestimmt ein netter Junge!''
Cedrik wurde verlegen und Frauke errötete. Sie hatte ihre Beine nun fest an ihren Oberkörper herangezogen und ihre Arme um die angewinkelten Beine geschlungen.
-- ,,Was liest du eigentlich?'', wechselte sie aprupt das Thema.
Verstört hielt ihr Cedrik sein Buch entgegen, und nannte dabei Autor und Titel.
-- ,,Camus, L'etranger''
-- ,,Oh, du liest das Buch im Original! Verstehst du denn alles?'
-- ,,Mit einem Franzosen als Vater und wenn man einen Teil seiner Schulzeit an französischen Schulen verbracht hat, sollte es eigentlich kein Problem sein!'', sagte Cedrik lachend.
Sie habe das Buch nur in Deutsch gelesen, als sie den Roman im Französischunterricht behandelt hatten. Den apathischen Protagonisten des Romans habe sie irgendwie sympathisch gefunden. Auch wenn seine scheinbare Gefühllosigkeit sie erschreckte. Irgendwie könne sie auch verstehen, als er beim Begräbnis seiner Mutter nicht weinen konnte, oder wenn er auf den Heiratsantrag seiner Freundin sagt, dass es ihm egal sei, ob er verheiratet sei oder nicht. Dann sagte sie zu Cedrik, dass Cedrik für sie auch so ein Fremder sei. Sie meine in der Firma. Also sie meine es ganz positiv, sagte sie, als sie merkte, dass Cedrik mit dem Vergleich nicht so begeistert schien. Cedrik wirke in der Firma auch immer so, als gehe ihn das nichts an, als sei er nur mal eben so zu Besuch da. Während die anderen immer so verbissen wirkten, käme er ihr immer gelassen vor, so als könnten ihn diese ganzen kleinen Details nicht interessieren. Und wenn er mal was sage, dass habe es Hand und Fuß, man spüre dann, dass er wisse wovon er spreche.
-- ,,Ich fühle mich geschmeichelt!'', sagte Cedrik, ,,aber der Vergleich mit Meursault ...''
-- ,,Meursault?''
-- ,,So heißt doch die Hauptperson in der Fremde!''
-- ,,Ist schon eine Weile her, dass ich das Werk gelesen habe. Damals beim Abi. Eigentlich habe ich glaube nur die erste Hälfte gelesen.''
-- ,,Mersault ist ein Typ der völlig ehrgeizlos in den Tag hineinlebt und dann auch noch fast zufällig zum Mörder wird. Mörder wieder Willen.''
-- ,,Dann ist es doch Totschlag oder so?''
-- ,,Selbst vor Gericht bleibt er passiv und verteidigt sich nicht. Wird zum Tode verurteilt!''
© Bernd Klein