Eigentlich hatte Gumbrecht gehofft, dass ihnen diesmal die von ihm so gehasste Vorstellungsrunde erspart bliebe, denn schließlich kannten sie sich ja alle untereinander. Aber Garda sagte, dass es für sie als Kursleiterin besser sei, denn sie wollte sie kennenlernen und mehr über sie erfahren. Aber das Schlimmste war, dass sie noch wissen wollte, was sie sich von dem Seminar erhofften. Gar nichts, wäre seine ehrliche Antwort für Gumbrecht gewesen. Aber als er dann an der Reihe war sagte er unter vorgehaltener Hand, nachdem sie nochmals extra nachgefragt hatte:
-- ,,Ich lasse mich überraschen! Im Prinzip bin ich offen für alles''
`Im Prinzip' das war einer dieser Verräter, so wie `eigentlich'. Füllwörter die häufig nicht nur einschränken, sondern darauf hinweisen, dass der Sprecher das Gegenteil meint oder die Unsicherheit des Sprechers offenbaren. So ist es häufig so, dass ,,im Prinzip offen für alles'' bedeutet, dass der Sprecher dem Neuen skeptisch gegenüber steht, verschlossen und nicht offen ist, aber dem, was da kommen mag, dennoch eine kleine Chance zu geben bereit ist. Garda hatte ihn einige Sekunden skeptisch angeschaut und dabei nervös ein Ohrläppchen massiert. Sie spürte seine Skepsis. Mit einem Lächeln, an dem sich seine Augen nicht beteiligten, versuchte er ihr zu signalisieren, dass es nicht so schlimm sei, wie sie vermutete. Beträfe das Seminar nur ihn, hätte er es auf den folgenden Tag verschoben. Bedingt verschoben. Ein Mañana, der zweiten Stufe: `Morgen, wenn es nichts Wichtigeres zu tun gibt.' Letzte Nacht war ihm klargeworden, dass er dringend Zeit zum Nachdenken brauchte. Aus Furcht hatte er monatelang oder gar jahrelang nicht mehr über sich selbst richtig nachgedacht.
Gumbrecht schreckt auf, als plötzlich ein Teil von Gardas Rede in sein Bewußtsein dringt: ,, ...Kosten, die durch offenkundige aber auch latente Procrastination entstehen!''
-- ,,Haben Sie eine Frage?'', wendet sie sich plötzlich an Gumbrecht.
-- ,,Nein, nein ...'', stammelt er, ,,gestern habe ich zufällig einen Artikel in einer Zeitschrift in meinem Hotelzimmer zu diesem Thema ...''
-- ,,Sie meinen den Sonderdruck zur Prokrastination?''
-- ,,Woher wissen Sie?''
-- ,Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben diese Zeitschrift von uns erhalten, damit sie sich schon einmal zwanglos in die Materie einlesen können!''
-- ,,Sie haben ...'' begann Gumbrecht empört.
Auch wenn er seinen Satz nicht vollendete, war seine Mimik eindeutig. Seine gerunzelte Stirn und seine zusammengekniffenen Augen warfen ihr vor, dass er sich von ihr hereingelegt fühlte.
-- ,,Warum nicht! Der Artikel hat Ihnen doch gefallen? Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Leute, Informationen eher lesen, wenn sie glauben, sie selbst gefunden zu haben.''
Ob sie alle diese Broschüre gefunden hatten, wandte sich Garda daraufhin an die Gruppe und wusste als erfahrene Kursleiter ihre gesenkten Blicke und die zaghafte Zurückhaltung zu deuten. Die meisten hatten die Broschüre noch nicht einmal wahrgenommen geschweige denn gelesen.
Gumbrecht war erschüttert, obwohl es nur seine Annahme bestätigte. Die Firma hielt sie also wirklich für Faulenzer, auch wenn man es mit dem schicken neuen Namen Prokrastination zu beschönigen wusste.
Nach weiteren Ausführungen Gardas schreckte auch Cedrik auf. Mehrmals hatte Garda davon gesprochen, dass sie dieses Seminar als Chance ansehen sollten, ihre Arbeitsprozesse zu verbessern. Cedrik hatte nicht richtig zugehört, aber das was Garda sagte, klang für ihn plötzlich wie eine Drohung. Ihm war es als habe sie gesagt, dass sie ausgewählt worden seien, weil sie nicht mehr produktiv seien, sie nicht mehr richtig spurten. Die Firma gebe ihnen eine letzte Chance. Wenn er sich in der Runde umschaute, konnte er ihre Aussagen nur so interpretieren. Alles Leute, die er auch unter diesem Gesichtspunkt ausgewählt hätte. Was er sich jedoch nicht erkären konnte oder wollte, war die Tatsache, dass er selbst dabei war.
© Bernd Klein