Eine Rettung

Ohne zu zögern war Garda damals ins dunkle Wasser gesprungen, als sie dort eine scheinbar leblos Gestalt zu sehen glaubte. Für sie war klar, dass es Enrico sein musste. Wenige Minuten später zog sie einen leblos wirkenden Mann an Land. Viel zu klein, als dass es Enrico hätte sein können. Außerdem war er total bärtig mit breitem Backenbart.

Er atme nicht mehr, sagt Garda, die neben ihm kniet und sofort mit der Beatmung beginnt.

Plötzlich öffnen sich seine Augen. Verstört schaut er Garda an. Stammelt dabei unverständliches Zeug. Er scheint nicht zu verstehen, was sie zu ihm sagt.

-- ,,Klingt irgendwie wie komisches Englisch. Tea fill me up, oder so. Vielleicht ist der irgendwo von Bord gegangen? Als wir draußen waren, hatten wir doch Stimmen gehört?", sagt Francesco.

Es könnte ein Tourist sein, aber andererseite könne es auch ein Italiener sein, wenn nicht dieser komisch getrimmte Vollbart wäre, sagt Francesco. Marina sagte, dass sie fände, dass er ein schönes Gesicht hätte auch wenn es ungewöhnlich langezogen wirke. Eine schöne dünne Nase habe er, wie ein klassischer Grieche.

-- ,,Und wie sieht ein klassischer Griechen aus?'', fragte Francesco?

-- ,,Wusste gar nicht, dass die dünne Hakennasen haben!'', sagte Allegra.

-- ,,Also für mich sieht er wie ein Grieche aus! Egal was ihr sagt!'', trotzte Marina.

-- ,,Wie könnt ihr nur! Enrico ist noch draußen!'', bemerkte Garda und beendete damit den Anflug von Heiterkeit ihrer Freunde.

Er trage ein komisches Gewand, sagte Marina nach einer Weile. Wie als käme er gerade von einer Kostümparty, ergänzte Allegra. Dann müsste die Party aber draußen auf See statt gefunden haben, wandte Paolo ein. Warum nicht, auf einem Schiff, sagte nun Garda und plötzlich wirkte sie lebhaft und voller Hoffnung. Enrico konnte an Bord eines Schiffes sein.

-- ,,Und der hier fiel von Bord, weil er vielleicht zu viel gesoffen hatte!''

-- ,,Und die anderen suchten nach ihm und fanden statt dessen Enrico! Enrico ist jetzt an Bord des Schiffes, von dem der hier von Bord gegangen ist!'', sagte Garda mit einer Gewissheit, als könnte es gar nicht anders gewesen sein.

Ein Italiener sei es bestimmt, kamen sie überein, auch wenn er so eine merkwürdige exotische Auro ausstrahlte. Einer, der wegen eines Schocks nicht mehr sprechen könne, aber im schlimmsten Fall könne es durch den Atemstillstand zu Schädigungen in seinem Sprachzentrum gekommen sein, mutmaßen sie.

Plötzlich begann der Fremde zu stammeln und starrte auf Gardas Kreuz. Kein christliches Kreuz. Ein Replikat eines alten etruskischen Schmuckstückes. Ein Kreuz mit gleich langen Armen. An jedem Ende ein schmuckbesetzter Halbkreis und in der Mitte des goldenen Kreuzes wie ein Auge ein runder blauer Edelstein. Im Flackerlicht des Feuers schien er von innen heraus zu leuchten. Tana glaubte sie immer wieder aus seinem plötzlichen Redeschwall herauszuhören und so etwas wie Fillnia. Mit einem Ruck und einer Kraft, die sie ihm nach der Erschöpfung nicht mehr zugetraut hatten, richtete er sich auf und umklammerte Gardas Kreuz und diesmal dachten sie, dass es ein Name sein müsste, als er Tana rief. Mit weit geöffneten mandelfarbenen Augen schaute er Garda wie flehend an. Aus seinem dichten wild gelockten schwarzen Vollbard tropfte das Salzwasser.

Dann drehte er sich suchend um, als er plötzlich das Geräusch des sich nähernden Polizeihubschraubers wahrnahm. Sekunden später landete der Hubschrauber unter ohrenbetäubendem Lärm neben dem Feuer. Die Funken spritzten. Der Fremde drehte seinen Kopf energisch weg vom Hubschrauber. In seinem Gesicht zeigt sich Panik seine linke Hand gräbt sich in den Meeresand und die andere umklammert Gardas Anhänger.

-- ,,Keine Panik! Das ist nur der Hubschrauber!'', sagt Garda und streichelt ihm beruhigend wie einem Kind durch seine wild gelockten Haare.

-- ,,Alles in Ordnung?'', ruft einer der Polizisten vom Feuer aus, während er auf den nun am Boden sitzenden Fremden zeigt.

Sein Kollege stöbert um das Feuer herum und hebt immer wieder leere Wein- und Spirituosenflaschen auf.

-- ,,Das ist der falsche!'', ruft Francesco, während er in Richtung Feuer geht, ,,Enrico schwamm raus und jemand Fremdes kam zurück!''

Der Polizist schaute ihn staunend an. So als habe er Mühe zu verstehen, was er gerade gehört habe.

-- ,,Sie wollen mir also erklären, dass euer Freund im Meer ausgetauscht wurde?''

-- ,,Naja, bei dem was die hier konsumiert haben, wundert mich nichts!'', konstatiert sein Kollege, der mit einer halbvollen Sektflasche ankommt und in Richtung weiterer leerer Flaschen zeigte. Es nutzte nichts, dass Francesco beteuert, dass die meisten der leeren Flaschen von ihren Vorgängern seien. Schließlich sei dies ein beliebter Platz für nächtliche Feten.

Zwei Sanitäter heben in der Zwischenzeit den Fremden auf eine Pritsche. Die beiden Polizisten grinsen breit, als sich Garda plötzlich tränenüberströmt auf einen der beiden stürzt und sich an seiner Schulter klammert. Enrico würde ertrinken, wenn sie nichts unternähmen.

Für die weltweite Boulevard-Presse war der Vorfall wochenlang Berichte wert. ,,Ausgetauscht vor Elba'', ,,Rätselraten um Schiffbrüchigen'', ,,Der Mann aus der Brandung'', ,,Verschollen vor Elba'' und nach einigen Tagen, als er bei der Therapie im Krankenhaus besondere Regung bei Klavierklängen zeigte, hieß es ,,Rätsel um Pianomann scheint unlösbar!'' Es durfte nicht gelöst werden, denn es gehörte zu den die Auflage steigernden Artikel. So wie ,,Angriff der schwulen Killer-Pilze'' oder die Stories von den kleinen grünen Marsmännchen, die nicht immer nur auf dem roten Planeten, sondern manchmal auch unter unseren Städten tief in der Erde in riesigen mysteriösen Hohlräumen leben.

Da sich der Pianomann trotz aller Bewunderung für das Tasteninstrument nicht als Virtuose entpuppte, wurde er bald von der Boulevardpresse in ,,Der Etrusker'' umgetauft, denn schließlich war es den Ärzten und zugezogenen Linguisten nicht gelungen seine Sprache zu entschlüsseln. Allerdings hätten diese Sprachen dennoch eine stärkere Ähnlichkeit mit der eigentlichen Muttersprache gehabt, als es bei dem sogenannten Etrusker der Fall war. Die Wissenschaftler distanzierten sich aber sehr schnell von dieser These, was die bunten Bilder-Zeitungen aber ihren Lesern vorenthielten. Man ging davon aus, dass es sich um eine temporäre Aphasie durch Schock handeln könnte. Man hatte zwar keine Erklärung für die merkwürdige Sprache, die er manchmal zu sprechen schien und vor allen Dingen verblüffte er mit Kenntnissen des alten Griechisch, die weit über das hinausgingen, was man von einem Menschen des 21. Jahrhunderts erwarten konnten. Aber dies konnte er auch in der Schule gelernt haben. Möglicherweise sei es durch mangelnde Durchblutung im Hirn zu einer Schädigung des Sprachzentrums gekommen, sodass er seine Muttersprache nicht mehr sprechen und verstehen könne, aber seine Fremdsprachenkenntnisse, die wie man wisse in anderen Regionen des Gehirn gespeichert würden, waren verschont geblieben. Man habe dies oft, beteuerten die Experten. Die Fachliteratur kenne viele dokumentierte Fälle, in denen Patienten mit Hirnschlag ihre gesamten Kenntnisse der Muttersprache verlören, aber sich noch meistens in Schulenglisch verständigen könnten. Wenn dies so sei, dann sei es mehr als merkwürdig, dass er keinerlei Kenntnisse des Englischen habe, argumentierten hingegen jene, die an der mystischen Erscheinung des Etruskers festhalten wollten. Wo gäbe es noch eine Schule in Italien oder überhaupt in der Welt, in der kein Englisch sondern nur Altgriechisch unterrichtet würde. Außerdem beharrten sie auf einer Erklärung für die andere Sprache, welche die Linguisten nicht einordnen konnten. Als Antwort auf dieses Argument wurde ein amerikanischer Linguist zitiert, der sagte, dass es in der Fachliteratur dokumentierte Fälle gäbe, in denen Geschwisterkinder eine eigene rudimentäre Sprache entwickelt hätten, um nicht mehr von der Umwelt verstanden zu werden. Allerdings seien diese Sprachen der jeweiligen Muttersprache meistens in ihrer grammatischen Struktur und der Intonation eng verwandt.

Man hielt es auch für möglich, dass es sich bei dem Mann um einen Archäologen handeln könnte, denn an diesem Abend war eine große Gruppe dieses Berufstandes auf See, die tagsüber einen Kongress in Siena abgehalten hatten, und feierte dort eine Party. Allerdings wurde dort niemand vermisst, und es hatte auch niemand, jemanden über Bord gehen sehen.

Immer mehr glaubten mit der Zeit daran, dass es sich möglicherweise auch nur um einen äußerst talentierten Hochstapler handeln könnte. Einer, der irgendwann die Welt mit der Wahrheit verblüffen würde. Vielleicht ein Linguist, der seine Kolleginnen und Kollegen lächerlich machen oder testen will. Solche Spekulationen waren der Boulevardpresse aber nicht reisserisch genug. Kurz bevor das öffentliche Interese an dem Fall gänzlich abflachte, entfachten sie es aufs neue. Vielleicht war der Pianomann auch ein hinterhältiger Mörder. Das nahezu gleichzeitige Auftauchen des Pianomannes und das Verschwinden Enricos konnten doch kein Zufall sein.

© Bernd Klein