Wonach sehnen sich moderne Mensch am meisten, wenn sie durch die Wildnis kommen? Wobei man Wildnis gar nicht so wörtlich nehmen muss. Es braucht kein ferner Regenwald mit wilden Schlangen und Spinnen sein. Für von der Zivilisation verwöhnte Menschen genügt ein heimischer kultivierter Wald oder die Wälder der Toskana. Ein paar Tage, vielleicht nur zwei Tage und eine Nacht in diesen Wäldern, und sie sehnen sich nach den Segnungen der Zivilisation, einer Zivilisation, der sie nie wirklich fern waren, in einem Wald, in dem immer irgendwo Wanderer oder Biker auftauchen, wo es fast immer in ein paar Kilometer Entfernung oder in Sichtweite eine Ortschaft oder wenigstens ein Landgut gibt.
Gardas Gruppe erging es nicht anders, auch wenn sie ihre Nacht in modernen Zelten mit allem erdenklichen Luxus des modernen Campings verbracht hatten. Wonach sehnen sie sich, wenn ihre Füße bei jedem Schritt schmerzen? Wenn sie das Gefühl haben, dass selbst Barfußlaufen in Watte schmerzen würde. Was lässt sie den Schmerz vergessen? Nein, nicht die geteerte Straße, in die der Trampelpfad mündete, wo sie endlich wieder ohne zu stolpern gehen konnten, wo es keine vorstehenden Wurzeln oder unter den Füßen wegrollende Steine mehr gab und wo kein Gestrüpp und Unterholz ihnen das Durchkommen schwer machte. Klar sie wünschten sich auch in einem der Autos zu sitzen, die nun, wenn auch selten, an ihnen vorbeifahren oder in einem der Busse, keine Linienbusse, sondern Reisebusse gefüllt mit Touristen auf dem Weg zur nächsten Sehenswürdigkeit inklusive großem Souvenirladen. Der moderne Mensch leidet an Sonntagen und in der freien Natur. An Sonntagen weil die Geschäfte geschlossen sind und in der Natur, weil es keine gibt. So erscheint ein Souvenirladen, -- auch wenn er keineswegs mit einer schicken Boutique oder einem großen Kaufhaus mithalten kann, -- einer Gruppe, die die Natur pur zu lange genossen hat, wie ein Paradies. Ebenso wie es Touristen ergeht, die per Bus vom Strand zu einer Sehenswürdigkeit gekarrt werden, den kommerziellen Rummel von fahrenden Händlern und Kiosken dem kulturellen Anspruch von Kirchen, Klöster, Denkmäler oder anderen architektonischen Attraktionen vorziehen. Viele kaufen lieber einen beleuchteten Porzellan-Turm von Pisa als Schlafzimmerbeleuchtung oder verinnerlichen die Architektur, indem sie einen schiefen Marzipan-Turm verspeisen, als dass sie den beschwerlichen Weg nach oben antreten.
Auf einer schmalen von Zypressen umrahmten Allee, bewegte sich Gardas Gruppe geradewegs auf ihr Ziel zu. Es war keines der berühmten Ziele der Toskana, die als Pflichtübung aller Touristen auf dem Programm stehen. Vielmehr handelte es sich um eine Attraktion für die richtig Kunstbeflissenen oder für die, die sich als solche fühlten. Eine Sehenswürdigkeit, die wie ein Geheimtipp für Eingeweihte gehandelt wurde. Dennoch karrten während der Hochsaison täglich mehrere Busse Dutzende von Geheimnisträger heran.
Schon von weitem sahen sie den Kirchturmurm der alten Klosteranlage immer wieder zwischen Olivenhainen hervorlugen. Der Glcokenturm aus weißem Sandstein gegen einen dunkelblauen Himmel.
Stoisch marschierten die Seminarteilnehmer auf das Anwesen zu, das von einer malerischen alten verwitterten Mauer umrahmt wird. Eine Mauer, hinter die sie ihre Wünsche projizierten. Ein umschlossenes Paradies mit einem einzigen Eingang. Ein großes schmiedeeisernes Tor, welches weit geöffnet war. Ein Tor, welches breit genug ist, dass in der Vergangenheit wohl Ochsenkarren und heute Autos passieren konnten. Aber die Touristen in ihren Wagen und die Reisebusse mussten außerhalb der Mauern parkieren.
Ein Paradies sei es, kommentierte Frauke als erstes den Anblick, der sich ihnen nach dem Passieren des Tores bot. Die anderen stimmten ihr in Worten und nicht sprachlichen Erstaunensbekundungen zu. Ein Park mit riesigen Maulbeerbäumen und knorrigen alten Olivenbäumen. Alle pfichteten ihr bei. Besonders hoch schlagen ließ die Herzen der Kursteilnehmer vor allem der Swimmingpool, den man hinter Hecken vorschimmern sah. Pool und Liegestühle in der Sonne versprachen endlich richtige Urlaubsstimmung. Auch wenn überall Schilder darauf hinwiesen, dass Pool und Liegestühle privat seien. Aber Garda sprach aus, was alle hofften: Die Verbote würden nur für die Tagestouristen aber nicht für Seminarteilnehmer gelten.
Mehrere malerische Gebäude, die, wie sie bald erfahren würden, noch bis vor wenigen Jahrzehnten Mönchen als Bleibe gedient hatten und schon vor vielen Jahrhunderten erbaut wurden, erwarteten sie am Ende der Allee. In dem Komplex befindet sich auch ein kleines Museum und daneben liegen die Räume der ,,Coat IT''.
Das Anwesen ist aber nicht nur wegen seiner Geschichte, seines malerischen Aussehens und seiner Architektur bekannt, sondern es wird auch in einem kulinarischen Reiseführern wegen seiner vortrefflichen Gastronomie unter der Überschrift ,,Ein Gehimtipp und ein absolutes Muss für alle kulinarischen Pilgerer'' erwähnt. Man diniert dort in einem prunkvollen Speisesaal, ausgestattet mit Originalmöbel und Gemälden aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Für die Touristen mit schmalem Geldbeutel unerschwinglich aber für die gibt es einen Imbiss. Deutlich billiger und schlechter als das Restaurant, aber dennoch für seine Kategorie völlig überteuert. Direkt neben dem Imbiss ein Laden, in dem man Weine der Region und vor allen Dingen jede Menge Kitsch, aber auch echte Kunstreplike der Etrusker kaufen konnte.
Beim Anblick des Shops konnte Garda die Gruppe nicht mehr bei sich halten, was ihr jedoch gelegen kam, denn sie habe noch, wie sie sagte, ein wenig Verwaltungskram zu erledigen. Wie eine Gruppe von Verdurstenden nach Irrungen durch die Wüste auf eine Oase zulaufen musste, so stürmten die anderen auf den Eingang zu. Sylvia musste schnell mal hinein, wie sie sagte, um sich einen Fettstift zu kaufen. Frauke musste dringend auf die Toilette und wollte dann nach den Ansichtskarten sehen. Gumbrecht wurde magisch und unwiderstehlich von den etruskischen Replikaten angezogen, die teilweise seiner Meinung nach zumindest aus der Ferne qualitativ anspruchsvoll schienen. Burbacki stürmte los, als spiegele ihm eine Fata Morgana einen hippen Handyladen vor, der zusätzlich zum üblichen Sortiment auch noch Krawattennadeln und schicke Lederschuhe zu bieten hatte. Lutz Willach wurde wirklich nur von Durst und Hunger getrieben. Lediglich Cedrik folgte mit einem bewusst desinteressierten Gesichtsausdruck, um zu zeigen, wie sehr er diese blinde Konsumhaltung verachtet.
© Bernd Klein