Manchmal kann man stundenlang vor einer geschlossenen Türe sitzen und fragt sich nie, was wohl dahinter liegen mag. Man nimmt sie gewissermaßen gar nicht war, vielleicht auch, weil man annimmt, dass sie verschlossen ist. Bei zugezogenen Vorhängen ist es ähnlich, auch wenn sie nicht abgeschlossen sein können. Cedrik hatte diese Neugierde gleich gepackt, als sie den Shop betreten hatten. Ein Souvenirladen der Etrusker-AG, wie Cedrik und Frauke die Coat-IT nur noch scherzhaft nannten. Ein Laden, der nur dann geöffnet war, wie ihnen Garda sagte, wenn es sich lohnte. Also wenn gerade ein ganzer Bus mit Touristen ankam oder wenn sie, wie jetzt mit einer Seminargruppe hineingingen. Ansonsten würde es sich nicht lohnen, wenn jemand im Laden darauf wartete, dass vielleicht zwei bis drei Touristen pro Stunden sich im Laden verirrten und meistens noch nicht einmal etwas kauften.
Was wohl hinter dem dicken weinroten Samtvorhang sei, hatte Cedrik Frauke flüsternd gefragt, nachdem sie den Laden hinter Garda betreten hatten. Ein schwerer Vorhang, so wie er auch in Theatern als Bühnenabtrennung verwendet wird. Auf dem Weg zum Vorhand, der Cedrik und Frauke magisch anzuziehen schien, schmökerten sie kurz in den zahlreichen ausgestellten Büchern und Broschüren, viele auch in anderen gängigen Sprachen oder mehrsprachig. Reiseführer, Kunstführer oder Bildbände über die Toskana. Frauke wühlte kurz in den Auslagen mit etruskischen Schmuckimitationen, während Cedrik noch die Ständen mit den Ansichtskarten durchstöberte. Eigentlich war klar, dass der Vorhang als Raumteiler diente, aber um es genau zu wissen und einen Blick auf das zu erhaschen, was sich dahinter verbarg, hatte Cedrik schon einmal versucht hinter den Vorhang zu schauen, aber dann verstohlen weggeschaut, als er merkte, dass Garda ihn, wie ihm schien, missbilligend beobachtete.
Er hatte auch das Gefühl, dass sie etwas sagen wollte, aber in dem Moment öffnete sich quietschend die Ladentüre. Ein dickes wulstiges Bein mit Badelatsche am Fuß, schob sich als erstes durch die Türe, dann folgte der imposante Rest. Fettbrüste kaum verdeckt unter einem dürftigen Bikinioberteil, um den sonnengebräunten und erhabenen Bauch ein Pareo im gleichen Design. An ihrer Hand zieht die Wohlstands-Amazone ein schmollendes Mädchen in den Raum. Vom Aussehen und der Statur ohne Zweifel ihre Tochter. Hinter ihr, ein kleines Männchen, dessen rote Hautfarbe einem Hummer Konkurrenz machte. Sein T-Shirt, das lose über seiner kurzen Badehose baumelte, trug die Aufschrift ,,Diskutiere nicht mit jemandem der zwei Liter Vorsprung hat!'' An seinen Füßen trägt er schneeweiße Tennissöckchen und Sandalen.
Dann stürmen weitere Kinder und Erwachsene in den Raum. ,,Mami krieg' ich eine Cola'' quengelt ein Junge, dessen ausufernder Figur man ansah, dass er schon viele dieser Zuckerbomben in der Vergangenheit zu sich genommen hat. Hinter ihm motzt ein anderer Junge, der wie sein Ebenbild nur einen Kopf kleiner aussieht: ,,Wenn der eine Cola kriegt, dann krieg' ich ein Eis!''
-- ,,Mama ich will so ein Pferdchen'', sagte ein etwa acht Jahre altes schmächtiges Mädchen mit langen blonden Zöpfen, welches schon weit in den Raum vorgestürmt war und nun über der Schaufensterauslage turnte.
-- ,,Pass' auf, dass du nichts rumschmeisst! Das kommt uns teuer!'', mahnte der Vater.
Aber Garda war schon hinter ihr.
-- ,,Dein ganzes Zimmer ist voller Pferdchen, Bilder, Plüschtiere, wo willst du denn das noch unterbringen!''
-- ,,Aber ich habe noch kein Pferd aus der Toskana!''
-- ,,Das ist ein etruskisches Pferd. Eine Reproduktion einer Grabbeigabe ...'', erklärte Garda.
-- ,,Meine Tochter muss mal!'', sagte die Amazone im Pareo zu Garda.
Eigentlich hätten sie keine Toilette im Laden, nur im Restaurant, aber das sei zur Zeit geschlossen.
Als Garda dem Mädchen den Weg zur Toilette zeigt und damit gänzlich abgelenkt war, schlichen Cedrik und Frauke in den Raum hinter dem Vorhang. Sie glaubten, dass es niemand beobachtet hatte, denn alle verfolgten die Aktivitäten der Neuankömmlinge oder waren in die Souvenirs vertieft. Aber auch Gumbrecht packte die Neugier, als er als einziger sah, wohin sie verschwanden. Der Amateur-Archäologie in ihm trieb ihn vorwärts zu großen Entdeckungen, auch wenn er eigentlich nur weitere mehr oder weniger kitschige Imitationen etruskischer Kunst dort erwartete.
Doch kaum hinter dem Vorhang in dem dämmrigen Raum, stand er still, staunend mit offenem Mund, wie ein Kind, dass zum ersten Mal den Nikolaus vor sich sieht. Er lief zu einer Kette mit einem Anhänger, die exponiert auf einem alten Eichenschreibtisch lag.
-- ,,Das ist echt!'', raunte Gumbrecht und hielt die Kette hoch.
-- ,,Gold?'', fragt Cedrik.
-- ,,Auch! Aber ich meinte, dass es echt etruskisch ist! Dieses Kette mit diesem Amulett zierte vor mehr als 2000 Jahren den Hals einer Frau!'', sagte Gumbrecht und reichte Cedrik die Kette, so als könne dieser sich dann besser von der Richtigkeit seiner Aussage überzeugen. Dann widmete sich Gumbrecht der Inschrift auf dem Grabstein vor dem die Kette mit dem Anhänger gelegen hatte.
Cedrik nahm die Kette ehrfürchtig und hielt sie an Fraukes Hals.
-- ,,Das ist ein alter etruskischer Grabstein!'', sagte Gumbrecht, während seine Finger, wie die eines Blinden beim Lesen von Brailleschrift, den Einkerbungen auf dem Stein folgte.
-- ,,Sieht toll aus!'', sagte Cedrik und Frauke errötete.
-- ,,Ja, phantastisch!'', sagte auch Gumbrecht.
Gumbrecht glaubte, dass Cedrik wie er vom Stein begeistert wäre. Cedriks Lob galt aber dem Kreuz oder besser der Harmonie zwischen Schmuckstück und Trägerin.
-- ,,Eigentlich kann der Anhänger doch noch nicht so alt sein?'', wunderte sich Cedrik, ,,immerhin handelt es sich um ein Kreuz ...ich meine Jesus war doch noch nicht einmal geboren '', wandte Cedrik ein.
-- ,,Das Kreuz als Symbol war im alten Etrurien weit verbreitet.'', sagte Gumbrecht.
-- ,,Die Form ist etwas merkwürdig. Die beiden gleichlangen Balken und die Halbkreise an den Enden ...''
-- ,,Gibt es so ähnlich auch in der christlichen Symbolik, z.B. das Templerkreuz ...''
Gumbrecht schob ein vor dem Grabstein stehende Blumenvase zur Seite, denn sie behinderte ihn bei seiner weiteren Untersuchung.
-- ,,Mich wundert, dass jemand frische Blumen vor einen alten etruskischen Grabstein stellt!'', sagte Frauke.
-- ,,Thana'', sagte Gumbrecht plötzlich so laut, dass sie Angst hatten, dass man es vielleicht auch im anderen Teil des Geschäftes gehört haben könnte. Dann fügte er wieder mit gedämpfter Stimme hinzu: ,,Thana, so könnte sie geheißen haben. Das war ein gebräuchlicher etruskischer Name!''
Frauke schaute plötzlich erschrocken in eine andere Richtung. Als sie Fraukes Blick folgten, sahen sie dort einen wahrhaftigen alten Etrusker, -- der an anderem Orte auch ebensogut als Grieche oder Römer durchgehen konnte -- stehen.
Frauke schauten Gumbrecht hilfesuchend an, als der Etrusker näher kam und mit ausgebreiteten Armen auf sie einsprach. Er trug eine über der rechten Schulter geknotete weiße Leinen-Tebenna. An den Rändern bunte Stickereien. Schulterlange dunkle Haare. Geschminkt und maskiert wie für einen historischen Monumentalfilm, einer dieser Sandalenepen. Seine Sandalen zeugten allerdings eindeutig von einer Produktion im 21. Jahrhundert.
Aber für die drei wirkte er bedrohlich real, so als hätte der Unbekannte eben Zeit und Raum durchbrochen. Dann begann er in einer allen unbekannten Sprache zu reden oder zu stammeln.
-- ,,Ist nicht italienisch!'', raunte Gumbrecht.
Thana musste ein Name sein, soviel glaubte sie zu verstehen und dass er sie mit diesem Namen ansprach. ,,Mi hasna, ...svalthas ...melaka ...Thana!''
Frauke wich nicht zurück, als er sich ganz dicht vor sie stellte und das Medaillon in seine Hand nahm. Dann blickte er ihr tief in die Augen und sagte:
-- ,,Die Sonnne,'' und während er auf die Arme des Kreuzes zeigte, ,,Strahlen der Sonne, Oriente, Occidente, Sud und Nord!''
Dann strich er mit seinem Zeigfinger sanft über den blauen Stein, starrte aber nur Frauke an.
-- ,,Il mare! ...Il nostro luogo di nascita ...our birthplace ''
Alle zuckten sie zusammen, als sie plötzlich Gardas energische Stimme hörten.
-- ,,Was machen Sie hier! Hier ist Zutritt verboten!''
Die drei schauten den mysteriösen Fremden an, als könne Garda nur ihn mit ihrer Schelte meinen. Er war es, der hier eingedrungen war.
Dann sagte Garda in italienisch zu dem Fremden, dass alles in Ordnung sei, dass die drei zu ihrer Gruppe gehörten. Dann sagte Garda wieder in ihrem üblichen freundlichen Ton zu den dreien: ,,Darf ich vorstellen: Cutu, der Etrusker!''
-- ,,Aber ich dachte, dass es keine Etrusker mehr gebe?'', fragte Sylvia verwundert, die mit Garda in den Raum gekommen war. Dabei schaute sie Gumbrecht vorwurfsvoll an, so als habe sie diese Fehlinformation von ihm.
-- ,,Gibts auch nicht mehr! Die letzten sind vor über 2000 Jahren gestorben!'', sagte Gumbrecht verächtlich!
-- ,,Unser Etrusker ist aber quick lebendig!'', korrigierte ihn Garda, während sie zu Cutu ging und wie zum Beweis, das es kein Geist sei, ihn fest um die Schultern fasste.
-- ,,So wie die Römer im Gladiator! Mit einem Pseudo-Etrusker kann man den ganzen Klimbim hier im Laden besser verkaufen!'', erklärte Cedrik mit einer Überzeugung, als sei er für das Marketing der Coat-IT verantwortlich.
Da sei etwas faul, flüsterte Gumbrecht später, als sie wieder bei den anderen im Shop waren zu Cedrik. Ob er nicht gemerkt habe, wie entsetzt Garda gewesen sei, sie im hinteren Teil des Geschäftes zu sehen. Er müsse sich dieses sogenannte Lager nochmals genauer anschauen. Aber im Moment schien es nahezu aussichtslos, da sie Garda ständig zu beobachten schien.
© Bernd Klein