Auf ewig

Immer langsamer wurden Frauke und Cedrik je näher sie dem Lagerplatz kamen, so als wollten sie ihre Ankunft auf ewig hinauszögern. Dennoch ging es kontinuierlich weiter, was für Cedrik das gleiche Beharrungsvermögen war, -- auch wenn es diesmal nicht so viel mit körperlicher Erschöpfung zu tun hatte -- dass ihn bei seinem schon eine Weile zurückliegenden Marathonlauf hatte weiterlaufen lassen, obwohl seine Füße sich nach der Hälfte der Strecke anfühlten, als hätte er Nagelkissen unter seinen Füßen, als liefe er bereits auf den Knochen, so als wäre alle Haut und und das ganze Fleisch weggeplatzt. Wie ausgetrocknet hatte er sich in der sengenden Sommersonne gefühlt. Aber er war weitergelaufen Schritt für Schritt, Meter für Meter. Nur noch drei, zwei und einen Kilometer und die Hälfte der Strecke wäre um, hatte er sich damals gesagt. Schließlich als er fast dreißig Kilometer zurückgelegt hatte, glaubte er keine Füße und keine Beine mehr zu haben, irgendetwas unter seinen Hüften bewegte sich automatisch, rücksichtslos und perfekt. Nach dreiviertel der Strecke hatte er das Gefühl, dass er nicht mehr aufhören könnte, auch wenn er es wollte.

Seine Freunde bewunderten ihn, sagten, dass er einen eisernen Willen haben müsse. Aber er, als naturwissenschaftlicher Mensch, bereichnete es als Naturgesetz, analog dem, was der Physiker als Trägheit der Masse bezeichnet, also das Bestreben eines Körpers seinen Bewegungszustand nicht zu verändern, es sei denn, dass ihr die entsprechende Gegenkraft zugeführt wird. Definiert man ein paar Größen um, gilt es auch für den menschlichen Willen. In der Psyche ist es das Beharren, einem einmal gefassten Entschluss treu zu bleiben. Allerdings ist die Trägheit des Willens anders als ihr Äquivalent in der Mechanik masselos. Die Masse, die bestimmt, wie stark die entgegenwirkende Kraft sein muss, könnte man in der Psyche durch eine Kombination von Begeisterungsfähigkeit, Angstpotential und Flexibilität des Denkens bestimmen. In Cedriks und Fraukes Fall gab es keine Gegenkraft. Sie hatten keine Alternative zur Rückkehr ins Lager, auch wenn sie sich beide davor fürchteten. Sie erwarteten Wolff dort und fürchteten sich vor der Konfrontation. Wie mechanisch bewegten sie sich weiter auf das Zeltlager zu. Wie die Flügel einer Windmühle vom Wind unermüdlich gedreht werden, so hielt ihre Beine der Angst und der Schock in Bewegung.

Als sie sich dem Lager näherten und im Feuerschein zu erkennen versuchten, ob sich Wolff unter den Anwesenden befinde, erschraken sie, als vor ihnen plötzlich eine Gestalt auftauchte. Er war von der Seite her auf den Pfad gesprungen oder besser getorkelt. Seine wulstigen Finger fummelten in einer Art an den Knöpfen seines Hosenschlitzes, dass man nur schwerlich erkennen konnten, dass er sie zu schließen versuchte. Aber seine mangelnde Geschicklichkeit resultierte in erster Linie von dem vielen Bier, dass er getrunken hatte und nicht von seinen dicken Fingern. Willach lachte befriedigt mit einem Gesichtsausdruck, den Betrunkene mit Geistesschwachen gemeinsam haben über den gelungenen Effekt seines plötzlichen Auftritts.

-- ,,Das hätte ich nicht gedacht, dass ihr euch zurücktraut ...'', begrüßte sie Lutz Willach, und sie konnten es auch seinem Sprachfluss anhören, dass er viel getrunken hatte.

Frauke wurde blass und Cedrik starrte Willach fassungslos an. Sie fühlten sich entlarvt, aber Willachs Fröhligkeit passte nicht zum scheinbaren Ernst seiner Feststellung. Cedrik bewegte seine Lippen, so als wollte er sprechen.

-- ,,Ich dachte, dass ihr euch verdrückt hättet!'', stellte Willach fest und dann hatte wohl Willach das Gefühl, dass die beiden zu lange schwiegen und zu ernst schauten. ,,Ihr schaut ja, als kämt ihr von einer Beerdigung!''

-- ,,Wieso hätten wir uns verdrücken sollen?'', fragte nun Cedrik und bemühte sich ein verkrampftes Lachen hervorzuzaubern, um zu verbergen, dass er sich vor der Antwort fürchtete.

Cedrik sprach leise, so leise, dass Willach ihn kaum verstehen konnte. Wie die Stimme eines Kriminellen, der sich überführt fühlt, aber dennoch seine ihm sinnlos erscheinenden Verteidigung fortführt. Frauke starrte auf den Boden. Einzig Willachs gute Laune passte nicht ins Bild. Wie konnte er so fröhlich sein, wenn er wusste, was passiert war.

-- ,,Wegen dem Feuerlaufen meine ich natürlich!''

Cedrik und Frauke atmeten vor Erleichterung tief durch und bemerkten, dass sie das komplett vergessen hätten. Worauf sie Willach verdutzt anschaute. Wie man so etwas vergessen könne, wunderte sich Willach laut. Burbacki mache sich fast in die Hosen vor Angst, und sie hätten es vergessen.

-- ,,Dem Feuerlaufen ...'', wiederholte Cedrik und wenn Willach nicht so betrunken gewesen wäre, hätte er sich über Cedriks Erleichterung gewundert und gespürt wieviel Kraft diese Bemerkung Cedrik kostete, ,,...da freuen wir uns doch schon die ganze Zeit drauf ...nicht wahr Frauke? ...''

Aber Frauke starrte Cedrik nur schweigend und fassungslos an.

-- ,,Wo habt ihr eigentlich Winfried gelassen?'', fragte Lutz Willach sie nach ein paar Augenblicken des Schweigens unvermittelt.

-- ,,Wo sollen wir ihn gelassen haben?'', stellte Cedrik unwillkürlich eine Gegenfrage.

-- ,,Ich dachte nur, dass er bei euch ...'', Lutz stutzte, als er Frauke anschaute und fragte sie dann mitleidsvoll ,,Is' was mit dir?''

-- ,,Sie hat ein wenig zu viel getrunken ...!''

Willachs Gesichtsausdruck wechselte von Mitleid auf Schadenfreude und er beteuerte leicht lallend, dass er das gut verstehen können.

-- ,,Warum sollte der bei uns gewesen sein? ...'', fragte Frauke entsetzt.

-- ,,Ich dachte nur ...'', sagte Willach und wunderte sich dann in vielen Worten, dass ausgerechnet Wolff sich vor dem Feuerlaufen drücke, und beteuerte, dass er ihm das nicht zugetraut habe.

-- ,,Ihm wird doch nichts passiert sein?'', fragte er plötzlich.

Frauke schaute ihn entsetzt an, was er aber wegen des flackernden Feuerscheins und seines alkolisierten Zustandes nicht zu deuten wusste.

-- ,,Was sollte dem den schon passiert sein?'', sagte Cedrik in scherzendem Tonfall und fügte dann hinzu, ,,Wahrscheinlich hat er sich wirklich vor dem Feuerlaufen verdrückt! Kann ich nachempfinden!''

-- ,,Ich hätte ihn nicht alleine gehen lassen sollen!'', lammentierte Lutz Willach, wie ein Vater, der sich um seinen Sohn sorgte.

© Bernd Klein