Jeder ist seines Glückes Schmied

Als wäre es nicht um Wolff und Bellinger gegangen, hallte immer nur Baumeisters ,,manchmal muss man dem Glück junger Künstler ein wenig auf die Sprünge helfen.'' Doras Karriere hatte mit der Vernissage und der Ausstellung in ihrer Firma keinen großen Sprung gemacht, vielleicht einen winzigen. Danach steht sie immer noch auf der gleichen Sprosse der Karriereleiter wie vorher. Ein dünnes sprödes Querholz, ganz unten an der Leiter. Fragt man sie, was sie beruflich mache, sagt sie meist nur, dass sie in einem Laden für Künstlerbedarf arbeite. Interessant, kommentieren dann viele und manche fragen sie dann, ob man denn da nicht auch Lust habe selbt künstlerisch tätig zu werden? Doch, sage sie dann und fügt errötend hinzu, dass sie auch selbst male. Wahrscheinlich war auch Baumeister klar gewesen, dass es nicht so einfach ist, einer Künstlerin, der es an Originalität und auch an technischem Können mangelt ,,auf die Sprünge zu helfen''. Aber darum war es ihm ja wahrscheinlich auch gar nicht gegangen, dachte Cedrik bitter. Baumeister war es nur um einen Sprung gegangen, den schnellen zu ihr ins Bett. Auch wenn Cedrik die Künstlerin noch nicht einmal kannte und es nicht wahrhaben wollte, fühlte er Eifersucht. Auch wenn er sonst kaum etwas, was Baumeister sagt, ungeprüft glaubt, schloss er sich nun entgegen seinem eigenen ersten Eindruck dessen Urteil an, was die Künstlerin betraf. Baumeisters Lob und seine eigene Fantasie machten aus Dora, also einer Frau, die er nie gesehen hatte, ein Objekt der Begierde. Eine, die er selbst begehrte und nicht mit einem Typ wie Baumeister teilen wollte. Mehr noch als Eifersucht fühlte er eine Wut gegen Baumeister, oder war es nur eine Ausprägung der Eifersucht. Sie war nur mit ihm intim geworden, da war sich Cedrik sichter, weil Baumeister Macht verkörperte. Was sonst konnte sie an diesem Typen Anziehendes gefunden haben. Die Verlockung der Macht, Sex-Appeal eines Erfolgsmenchen. Oder sie stand auf kaum 1,60 messende Zwerge, dachte Cedrik. Noch dazu ein fetter Zwerg mit Doppelkinn. Um den Kugelbauch zu verbergen da halfen auch keine teuren Anzüge. Aber im Vergleich zu seinen inneren Werten, war er körperlich sogar ein vollschlanker Riese. Sein Geist war das Abscheulichste das Hässlichste an ihm. Sie hatte sich mit ihm eingelassen, weil sie glaubte dass er ihr weiterhelfen könne, weil er die geeigneten Beziehungen habe. Ganz falsch war ihr Kalkül nicht gewesen, denn immerhin hatte sie ja ein halbes Dutzend Bilder an ihre Firma verkaufen können, dachte Cedrik.

Dann erkannte Cedrik, dass er eigentlich nicht auf Dora eifersüchtig war. Seine Eifersucht richte sich nur gegen Baumeisters Stellung. Es war Neid, auch wenn er die Stelle selbst nicht begehrte, gar nicht machen wollte, selbst wenn man ihm die Position anböte. Cedrik fragte sich, wer wohl Baumeister auf die Sprünge geholfen haben konnte, dass er in diese verantwortungsvolle Position gekommen war. Sex konnte ihm nicht geholfen haben. Zum einen gab es kaum Frauen in Führungspositionen und wenn es sie geben würde, welche Frau wollte schon unbedingt mal mit einem Zwerg ohne Charme ein Abenteuer suchen.

Cedrik rollte mit seinem Schreibtischstuhl in seinem Büro zum Regal, um sich den Artikel von Jan Gromski zu holen. Die Rollen seiner Rosinante verhedderten sich in den gegen die Firmennorm quer über den Boden laufenden Kabeln. Nein, er war und wollte kein Don Quijote sein, wehrte sich Cedrik. Der Ritter von der traurigen Gestalt war ein realitätsferner Verrückter, der gegen Windmühlen kämpfte. Ganz im Gegenteil Cedrik glaubte, dass er die Realität klarer als andere sehe, vor allem als Baumeister oder Wolff. Aber war sich darin nicht auch Don Quixote de la Mancha sicher? Cedrik fand, dass es schwierig war seine Selbsicherheit zu behalten, wenn alle um ihn herum anderer Meinung waren. Aber hier ging es nicht um einen demokratischen Prozess. Mathematische Dinge sind entweder wahr oder falsch, oder man weiß nicht, ob eine Aussage wahr oder falsch ist. So wie lange Zeit die Brownsche-Vermutung. Tashinen hatte dann gezeigt, dass sie stimmte. Daran konnte auch kein Bellinger, kein Baumeister und kein Wolff rütteln. Nein, er war kein Windmühlenkämpfer, aber sein Kampf war so aussichtslos wie gegen Windmühlen. Die Firma würde einen großen Fehler machen, der sie bereits viel Geld gekostet hatte, und noch weitaus mehr kosten würde. Ganz zu schweigen, dass man durch diese Entwicklung andere wichtige Projekte vernachlässigen würde. Aber die Firma war ihm nach dem Gespräch mit Baumeister nicht mehr so wichtig. Cedrick wusste nun, dass Baumeister und viele andere glaubten, dass seine Arbeiten der Firma nichts brachten. Es erschütterte ihn, dass anscheinend nur Gumbrecht hinter ihm stand.

Nein, er hatte seine eigene Position nicht dadurch in Gefahr gebracht, dass er zum Entwicklungsleiter gegangen war und vehement seine Meinung vertreten hatte. Baumeisters Antipathie hatte schon vorher bestanden. Einen großen Vorteil hatte die Sache sogar, denn er wusste nun glasklar, auf welch dünnem Boden er in der Firma stand. Er genoss lediglich den Schutz eines Chefs, der selbst kurz vor dem Abschuss stand.

,,Jeder ist seines Glückes Schmied'' liest Cedrik auf dem aktuellen Blatt seines Themenkalender auf seinem Schreibtisch. Ein dummer Spruch, dachte er. Was nützte es, wenn die Ergebnisse der eigenen Schmiedkunst nicht geachtet werden. Wenn Leute zu blöd sind, ihren Nutzen zu erkennen. Aber was hatte Baumeister so hoch gebracht? Baumeisters Schmiedkunst konnte dazu sicherlich nicht ausgereicht haben. Fast zwangsläufig fiel ihm das sogenannte Peter-Prinzip ein. Nach der Hierarchiologie dieser Theorie wird jeder solange befördert bis er die Stufe seiner Unfähigkeit erreicht hat. Zur Untermauerung dieser These fallen Cedrik viele Beispiele ein, aber bei Baumeister trifft es garantiert nicht zu, denn Baumeister hatte mehrere Stufen seiner Unfähigkeit übersprungen. Man hatte ihn sofort vom Gruppenleiter mit einer Personalverantwortung für drei oder vier Leute direkt zum Entwicklungsleiter befördert. Die Abteilungsleiter- und die Hauptabteilungsleiterposition hatte er übersprungen. Dabei hatte er als Gruppenleiter -- hierin war sich Cedrik sicher -- bereits nach dem Peter-Prinzip alle Kriterien für seine Endstufe bestens erfüllt. Nein, korrigierte sich Cedrik, als Entwickler war er bereits in hohem Maße inkompetent gewesen. Cedrik rechtfertigte sich vor sich selbst gegen einen potentiellen Vorwurf, dass seine Aversion gegen Baumeister nur von Neid geprägt sei. Nein, Cedrik wollte nicht Baumeisters Position, auch wenn er mit seiner eigenen nicht richtig zufrieden war. Er wollte keine, wie es im Firmenjargon immer heißt ,,Verantwortung übernehmen'', jedenfalls nicht im Sinne der Firma. Unter Verantwortung übernehmen verstand man nur Personalverantwort. Was Cedrik sich wünschte war, dass man ihm die volle Verantwortung für seine Arbeit überließ, dass ihm keine Verantwortungs-Übernehmer ohne Sachverstand, so wie Baumeister, unsinnige Vorgaben machen konnten. Außerdem konnte es ihm doch nicht egal sein, dass er mit ansehen musste, wie einer wie Baumeister der Firma schadete, wie er als Entwicklungsleiter wichtige Entwicklungen bremste und stoppte und stattdessen Irrege und Sackgassen betrat.

,,Jeder ist seines Glückes Schmied'' suggeriert, dass der Erfolg im Leben eines Menschen schmiedbar, also planbar ist, dass es nur eine Frage des persönlichen Einsatzes ist. Alles wird also gut, wenn man nur kräftig beziehungweise heiß genug schmiedet. Aber keine Hitze ohne Feuer und für das Feuer bracht man Kohle. Kohle gleich Geld! Kommt die Gleichsetzung vom Schmieden, fragt sich Cedrik? Kohle als Symbol für Energie und Wärme. Grundvoraussetzung für ein angenehmes, ja für das Leben. Die einen werden schon mit reichhaltig Kohle geboren, dachte Cedrik. Deren Schmiede steht schon mit feinstem Werkzeug und Maschinen bei der Geburt bereit. Kaum Chancen für die Kohlelosen. Ohne Glück nützt ihnen der größte Fleiß nicht, um zu einer Schmiede zu kommen. Glück mit Chancen wie im Lotto. Aber steckt diese Erkenntnis nicht auch im Sprichwort? Statt Glück könnte es doch einfach ansonsten auch ,,Jeder ist seines Lebens Schmied'' oder ,,Jeder ist seines Erfolges Schmied'' im Sprichwort heißen. ,,Faber est suae quisque fortunae'' hieß es schon vor fast 2300 Jahren. Faber als der Macher des Glücks, der Architekt Fortunas, eigentlich noch schöner als der Schmied in diesem Zusammenhang. Ein Ausspruch von Appius Claudis Caecus, ein Macher aus dem alten Rom. Er erbaute die nach ihm benannte Trinkwasserleitung das Äquadukt ,,Aqua Appia''. Verdammt, korrigierte sich Cedrik, so eine scheiss Formulierung. Er erbaute sie nicht, von ihm stammten bestenfalls die Pläne. Wenn diese nicht auch von irgendwelchen Assistenten entworfen worden waren. Warum sollte es damals im alten Rom anders gewesen sein als in ihrer Firma. Im Auftrag von Gumbrecht schreibt er ein Programm und anschließend heißt es: Gumbrecht hat das Problem gelöst. Oder wenn das Programm bedeutend genug ist, präsentiert Baumeister die Lösung persönlich dem Management. Männer, denn oberhalb der Abteilungsleiterposition gibt es in ihrer Firma keine Frauen mehr. Baumeister präsentiert die Lösung Männern, die nicht merken, dass er keinen blassen Dunst hat, wovon er redet. Männer, die bunte Bildschirm-Präsentationen für Problemlösungen oder sogar für fertige Algorithmen halten. Männer, die anschließend beeindruckt von Baumeisters Arbeit sind. Männer, die sich dann selbst auf die Schultern klopfen, dass sie einen so tollen Mann wie Baumeister zum Entwicklungsleiter gemacht haben. Männer, deren Füße abends, wenn sie aus ihren schwarzen Lackschuhen befreit werden ebenso stinken, wie die der anderen Firmenmitarbeiter. Männer mit dicken Bäuchen oder hagere Gestalten. Zu klein geratene Männer oder Hünnen, deren IQ deutlich unter seinem liegt, dachte Cedrik. Niemand von ihnen konnte auch nur dreimal schneller laufen, dreimal höher springen oder dreimal schneller lesen und rechnen als der Durchschnitt. Aber dennoch verdienen solche Leute, dachte Cedrik, zehnmal, hundertmal, ja bis zu millionenmal so viel wie andere Leute.

Wenn er etwas leistete, dachte Cedrik, dann war dies nie Gumbrechts oder Baumeisters Verdienst, dachte Cedrik. Ganz im Gegenteil, ihr Beitrag an seinen Arbeiten bestand darin, dass sie ihn mit mit unausgegorenen Ideen von seinen eigenen innovativen Ideen abzubringen versuchten. Meistens arbeitete er sogar gegen die Vorgaben und Anordnungen seiner Vorgesetzten. Quasi illegal, oft auch zu Hause. Dann wenn alle von dem tollen neuen Algorithmus, den er offiziell nicht schreiben durfte, überzeugt sind, ist Gumbrecht wieder der Macher.

Appius war wohl auch nichts anderes gewesen als ein Gumbrecht oder Baumeister. Ein geistiger Parasit, der von der Arbeit anderer lebte. Nicht Appius sondern andere längst vergessene Ingenieure hatten, so dachte Cedrik, die Via Appia erbaut. Aber letztendlich war das nicht wichtig für die Touristen, die heute in echter oder angestrebter Ehrfurcht über die verbliebenen Steine schlendern. Es war auch nie wichtig gewesen für die römischen Legionen und die Heerschaaren der Kaufleute, die jahrhunderteland über diese Straße marschierten.

Plötzlich war Cedrik klar, dass seine Wut mehr war, als der Hass gegen Baumeister. Er hasste es, dass Leute soviel Macht über ihn hatten und dass man ihm noch nicht einmal die Anerkennung und das Lob für seine Arbeiten ließ. Nur im Fehlerfall, dann blieb er der Urheber. Mann machte ihn dann zum schwarzen Schaf, egal ob er den Fehler zu verantworten hatte oder nicht. Auch wenn er zum Beispiel genau das gemacht hatte, was Gumbrecht oder irgendwelche Projektleiter von ihm verlangten. Aber selbst ob etwas ein Fehler war oder nicht, war häufig fraglich und lag in der Entscheidungsgewalt von Leuten wie Baumeister. Cedrik hasste es, dass Leute mit so geringem Sachverstand, darüber entscheiden durften, was richtig und falsch ist, und, was er tun und lassen durfte. Er bezweifelte nicht, dass Entscheidungen getroffen werden mussten und dass es Führungspositionen geben musste. Aber es gab zu viele Chefs in zu vielen Hierarchiestufen in ihrer Firma. Jede zusätzliche Stufe diente der weiteren Entmündigung der Untergebenen. Ein guter Chef ist nur, wer von seiner Macht nur dann Gebrauch macht, wenn es unbedingt nötig ist. Einer der immer so viel Verantwortung wie nur irgendwie möglich bei seinen Mitarbeitern lässt. Seine eigene Ohnmacht quälte ihn. Er musste entweder mitspielen oder auf seinen Job verzichten. Aber anderswo wäre es nicht besser, dort wären andere Meister, auch ohne Bau.

© Bernd Klein