-- ,,Da kannst du mal wieder sehen, was deine Tochter angestellt hat!''
So würde ihr Vater bestimmt zu ihrer Mutter sagen. Sie höre den Widerhall seiner Stimme im Kopf, so als wäre er bei ihnen und hätte es in diesem Augenblick verkündet, bemerkte Frauke zu Cedrik. Die beiden sitzen nur wenige hundert Meter von der etruskischen Grabstätte entfernt auf einem am Boden liegenden Baumstamm. ,,Deine Tochter'' wiederholte Frauke aufs Neue und verstellte dabei sogar ihre Stimme. Tief, dunkel und mit einer Menge Aggressivität und Verachtung drin. Cedrik drehte sich um, denn plötzlich hatte er das Gefühl als könnte Fraukes Vater hinter ihnen im Dunklen stehen. So musste es vielleicht auch bei den Teilnehmern an einer Séance sein, wenn das Medium plötzlich in tiefer und verzerrter Stimme einen längst Verstorbenen immitiert. Auch wenn Cedrik an nichts Übernatürliches, Gott eingeschlossen, glaubt, schaudert es ihn. Wie in einem Fieberwahn kamen immer wieder Bruchstücke aus Fraukes Kindheit.
Besänftigend hatte Cedrik seinen Arm um die Schultern der wie ein Kind schluchzenden Frauke gelegt. Er drückt sie fest, wie als wolle er verhindern, dass sie weiter in ihre Kindheit entglitte. So als müsse er sie halten, damit sie nicht in einem Sumpf versinke, aus dem er sie nicht mehr herausziehen könne.
Im Vollmond glitzern Tränen, die ab und zu wie flüssige Perlen ihre Wangen herunterrollen.
Es hätte doch auch Cazzo gewesen sein können, hatte Cedrik gemutmaßt. Er sagte es nur, weil er sie beruhigen wollte. Auch wenn seine Argumente einer gewissen Plausibilität nicht entbehrten, kam ihm diese Theorie selbst zu gewagt vor. Cazzo, ein Deus ex machina, um den Geschehnissen ein Happyend zu verleihen. Er wollte Frauke einen potentiellen Täter bieten, damit sie nicht mehr glaubte, dass sie es selbst gewesen sein könnte oder, was noch schlimmer war, dass sie Cedrik selbst verdächtigte. Frauke hatte doch gesagt, dass sie Cazzo gesehen habe, als sie das Lager verlassen hatte. Was, wenn er ihr gefolgt war? Cazzo habe gesehen, dass sie in der Kammer in Not war, dass Wolff sie angegriffen hatte. Dann habe Cazzo den Stein genommen, und auf Wolff eingeschlagen. Anschließend sei er weggerannt, sodass sie ihn hätte gar nicht bemerken können.
Aber Frauke spürte, dass Cedrik selbst nicht von dem überzeugt war, was er von sich gab.
-- ,,Nein, ich habe diesen Cazzo nicht gesehen. Ich hatte nur Angst ihm zu begegnen!'', sagte Frauke und stellt plötzlich entsetzt fest: ,,Du hast den Stein mitgenommen!''
Cedrik hebt erstaunt seine Hand, in der er den blutverschmierten Stein hält, und schaut ihn irritiert an, so als habe er ihn auch erst in diesem Augenblick bemerkt.
-- ,,Schmeiss ihn weg!'', sagt Frauke beinahe schreiend.
Cedrik holt aus, um den Stein wegzuwerfen, hält dann aber kurz vor dem Abwurf inne.
-- ,,Ich denke wir müssen den Stein zurückbringen. Schließlich war es Notwehr und da passt es nicht, wenn der Stein fehlt oder sonstwo gefunden wird! Wie würde das klingen, wenn ich sage, dass ich ihn in Ungedanken mitgenommen habe.''
-- ,,Nein, nein!'', schreit Frauke beinahe, ,,Ich will nicht mehr an diesen schrecklichen Ort zurückkehren.''
Aber als Cedrik vorschlägt alleine zu gehen, und sie könne solange auf ihn warten, wehrt sie sich. Klammert sich an ihn. Er könne sie doch nicht alleine lassen in der Dunkelheit im Wald, nicht nach dem was passiert sei. Er solle noch etwas warten, dann ginge sie mit ihm zurück. Cedrik spürte, dass sie wieder in ihre Erinnerungen floh.
-- ,,Jeden Abend hat meine Mama mit mir gebetet.'', sagte Frauke nach kurzer Zeit scheinbar wieder unvermittelt, so als gäbe es keinen Stein mit dem Wolff erschlagen worden war, ,,Ich lag im Bett, Bettdecke bis zur Nasenspitze, und sie saß auf der Bettkannte. `Gottvater hilft allen, die er liebt' sagte sie immer und `Gottvater liebt seine Kinder!' '', murmelt Frauke kaum hörbar und starrt dabei durch Cedrik hindurch. ,,Aber kann ich überhaupt sein Kind sein?''
Auch wenn alles mehr wie ein Selbstgespräch wirkt, hat sie doch auch Cedrik im Fokus.
-- ,,Wo war er eben?'', fragt sie empört, während ihre Blicke suchend umherstreifen.
-- ,,Immerhin ist dir nichts passiert!'', sagt Cedrik und korrigierte sich sofort, ,,zumindest nichts, was sich nicht heilen ließe!''
`Himmlicher Vater' sagte ihre Mutter auch öfters, aber der himmliche und der irdische waren in der Realität für sie meistens das gleiche. Wenn sie einen Vater brauchte, waren beide nicht da. Ihr irdischer Vater war dann ebenso wenig sichtbar, hörbar oder fühlbar wie der gütige alte Mann mit dem weißen Vollbart im Himmel, um den in ihrer Vorstellung die goldenen Engel schwirrten. Ihr Vater war meistens weg - zumindestens kam es ihr in ihrer Erinnerung so vor. Im Auftrag der Firma jettete er um die Welt. Später im Chemiunterricht, den sie eigentlich gehasst hatte, lernte sie dann die Theorie über ihren Vater. Wie ein Elektron war er, und sie und ihre Mutter der Atomkern. Er umkreiste sie nicht brav, wie im bohrschen Atommodell. Die Elektronen hielten sich in Orbitalen auf, wulstige Ringe, symmetische Hanteln oder rosettenförmig. Heisenbergs Unschärferelation galt auch für ihren Vater, und es gab zu keinem Zeitpunkt einen exakt zu bestimmenden Aufenthaltsort ihres Vaters. Sie lernte, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Elektronen zwar mit dem Abstand vom Atomkern asymptotisch gegen Null geht, aber sich dennoch bis ins Unendliche erstreckt.
So war es auch mit ihrem Vater. So empfand sie es, schon als kleines Kind, schon lange bevor sie Chemie in der Schule hatte. Auch wenn ihr Vater gerade in Taiwan, London oder Sacramento weilen mochte, konnte er auch gleichzeitig bei ihr sein, wenn sie nur fest genug daran glaubte. Wenn sie fest ihre Augen vor dem Einschlafen schloss, konzentrierte sie sich darauf den imaginären Lufthauch seines Atems zu spüren, wenn er sich über sie beugte, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben.
Meist schaute sie vor dem Einschlafen noch auf die Postkarte von Sacramento, dort wo die Zentrale der Firma war, bei der ihr Vater angestellt war. Sie liebte die Bäume mit den kleinen roten Blüten. Kamelienbäume waren es, die das mächtige Repräsentationsgebäude umrankten. Das State Capitol Building hielt sie lange Zeit für den Ort, an dem ihr Vater arbeitete und wohnte, wenn er in Kalifornien weilte. Manchmal halb Ernst halb Spiel fixierte sie die Postkarte, starrte in die Fenster und hoffte ihren Vater winken zu sehen. Sie brauchte die Postkarte nicht von der Wand zu nehmen um den Text zu lesen, denn sie kannte ihn auswendig. ,,Sacramento hat mehr Bäume pro Einwohner als jede andere Stadt, mehr als Paris!'' und schräg am Rand stand ,,Wish you were here!'' Warum er nicht einfach ,,Es wäre schön, wenn ihr auch hier wärt'' geschrieben habe, wollte Frauke damals wissen, als ihre Mutter ihr den Spruch übersetzt hatte.
,,Sind wir wirklich alle Gottes Kinder?'' wollte Frauke als Kleinkind immer wieder von ihrer Mutter bestätigt haben, wenn sie sagte, dass Gottvater alle seine Kinder liebe. Denn für sie war es klar, man musste ein Kind von Gottvater sein, um von ihm geliebt und damit auch beachtet und geschützt zu werden.
Ein paar Jahre später glaubte sie zu verstehen, dass dies auch bei irdischen Vätern nicht anders war. Sie ging in die erste oder ihre zweite Klasse, als sie ihre Mutter fragte:
-- ,,Liebt auch ein Vater, der nicht der Vater ist, sein Kind?''
Frauke spürte, dass ihre Mutter bei ihrer Frage zusammenzuckte und dass sie verlegen war und um eine Antwort rang.
Eigentlich hoffte Frauke darauf, dass ihre Mutter sagen würde, aber natürlich doch, was denkst denn du. Vor allen Dingen hoffte sie, dass sie ihr bestätigen würde, dass ihr Vater sie liebte, aber ihre Mutter antwortete nur mit einer Gegenfrage.
-- ,,Was ist denn das für eine komische Frage?''
Frauke lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Neben ihr eine Tasse Tee, viele Taschentücher und ein Fiebermesser. Zwei Tage lang war sie schon aus der Schule wegen hohem Fieber zu Hause geblieben. Sie konnte sehen, wie ihre Mutter zusammenzuckte. Dann fühlte ihre Mutter ihre Stirne, so als habe sie das Gefühl, dass das Fieber wieder angestiegen sei.
Tagelang hatte die Frage ebenso wie das Fieber in Frauke gebrodelt, aber sie wusste nicht, wie sie es formulieren sollte. Tief in der Nacht wurde die Frage gebohren. Als ihre Eltern nach einem Theaterbesuch spät nach Hause kamen. Wie so häufig redeten sie relativ laut, weil wie immer davon ausgingen, dass Frauke nicht wach würde, also auch nicht zuhören könnte.
Das sei doch lächerlich, hört sie ihre Mutter. Er habe doch selbst gesagt, dass der Urologe gesagt habe, dass er nicht wisse, seit wann er unfruchtbar sei.
-- ,,Falsch! Mit größter Wahrscheinlichkeit bin ich schon seit meiner frühen Jugend unfruchtbar. Möglicherweise nach der Mumps. Das hat er gesagt. Er hat lediglich eingeschränkt, dass er sich nicht hundert Prozent sicher sein könnte ...''
-- ,,Eben! Wieso nimmst du dir das Recht so verdammt sicher zu sein. Warum gehtst du nicht einfach davon aus, dass es erst vor ein paar Monaten oder ein paar Jahren, zum Beispiel bei der schweren Virusgrippe ...also nach der Zeugung unserer Tochter passiert ist ...''
-- ,,Das hält der Doktor aber nicht für sehr wahrscheinlich.''
-- ,,...und da bezichtigst du mich -- mir nichts dir nichts, -- dass ich dir untreu war. Habe ich dir jemals dazu einen Grund gegeben?''
Langes Schweigen und Frauke konnte von ihrem Zimmer aus nicht sehen, ob er ihr in seiner Gestik zustimmte oder ihr widersprach. Aber dann wiederholte ihre Mutter die Frage, dringlicher, flehender, so als habe er ihr mit seinem Schweigen widersprochen.
-- ,,Möglichkeiten hättest du jedenfalls genug gehabt. Ich irgendwo in der Welt und du alleine zu Hause! Da hast du es ja einfach gehabt!'', sagte ihr Vater.
-- ,,Einfach? Oh ja!'', schrie sie plötzlich, ,,alleine mit einem blärrenden Baby, alleine mit einem Kleinkind. Niemand der mir hilft. Während du dich irgendwo vergnügst ...''
-- ,,Das ist meine Arbeit! Und du lebst ja schließlich nicht schlecht davon! ...Außerdem reden wir doch von der Zeit vor der Geburt von Frauke. Da hättest du doch können ...''
Schon vor dieser Nacht hatte ihr Vater sie immer bei ihrer Mutter mit ,,deine Tochter'' bezeichnet, wenn er sich über sie ärgerte. Aber dann war immer klar, dass die Formulierung nicht richtig ernst gemeint war, nur mit der Missstimmung zu tun hatte. Ihre Mutter entgegnete dann immer stereotyp ,,Sie ist auch genauso deine Tochter!''. Aber vor dieser Nacht nie gab es einen Zweifel, dass es sich um einen Scherz handelte.
Aber nach diesem Streit titulierte er sie öfters als ,,deine Tochter'' und auch dann, wenn er sich nicht über Frauke ärgerte. Was Frauke am meisten schmerzte, ihre Mutter widersprach ihm nicht mehr. Sie betonte nicht mehr, dass es auch seine Tochter sei.
Von dieser Nacht an, hatte Frauke das Gefühl, dass sie seine Vaterliebe verloren hätte. Auch wenn sie nicht wusste warum, so hatte sie von da ab das Gefühl, dass alles ihre Schuld war. Wenn sie nicht da wäre, hätten sie doch nicht diesen Streit gehabt. Sie war nicht brav genug gewesen, auch wenn sie immer als ein außerordentlich liebes Kind gegolten hatte. Wenn sie sich nun nichts mehr zu Schulden kommen ließe, würde sie die Liebe ihres Vaters zurückgewinnen. Sie könnte so wieder seine Tochter werden. Ihr Ehrgeiz in der Schule war plötzlich unübertrefflich. Die Lehrerinnen und Lehrer waren voll des Lobes, aber ihr Vater war nie da, um es selbst zu hören. Aus dem Munde ihrer Mutter zählte für Frauke nicht.
© Bernd Klein