Blutig zerkratzt von Dornen und vorstehenden Ästen waren Fraukes Handrücken und Unterarme, ebenso wie ihre nackten Beine. Aber bei Cedrik sah es schlimmer aus, er war immer vorausgegangen und hatte nicht nur eine zerrissene Hose, sondern auch blutige Kratzer an seinen Beinen. Am Schluss waren sie auf dem teilweise mit Dornen überwucherten engen Pfad beinahe panikartig gelaufen, um den Angriffen der Bremsen zu entgehen. Stiche dieser Viehfliegen, auch Tabanidae genannt, waren besonders schmerzhaft. Sokrates brachte diese Plagegeister in seiner Verteidigungrede der Apologia zu philosophischen Ehren. Wie eine Bremse einem Pferd lästig fiele und es mit seinen Stichen in Bewegung halte, so wollte er den Staat mit seinen quälenden Fragen in Bewegung halten. So vortrefflich war ihm dies gelungen, so lästig war er dem Staat gefallen, dass sie ihn zum Tode verurteilten. Aber Frauke und Cedrik hatten es in dem toskanischen Wald nicht mit der sokratischen Varianten dieser Spezies zu tun, sondern mit völlig ausgehungerten und extrem blutdürstigen realen Exemplaren. Sobald sie ihr Tempo verlangsamt hatten, was sie immer wieder versuchten, spürten sie sofort schmerzhaften Bisse. Besonders gierigen Exemplare dieser Vampire gelang es sogar durch Hemd und Hose einen Schluck des begehrten Blutes zu ergattern. Nur in einem kontinuierlichen Dauerlauf konnten sie den Plagegeistern entkommen. Aber selbst dabei wirbelten sie sicherheitshalber mit ihren Händen durch die Luft oder klopften ihre Körper prophylaktisch ab.
Vorhin sei ihm gewesen, als habe er wieder diesen verdammten Traum, den, in dem er sich nicht richtig bewegen könne. Natürlich sei ihm klar gewesen, dass er nicht träume, aber während er träume erscheinen ihm die Fantasiegebilde auch immer so real, dass er glaube wach zu sein, hatte Cedrik gesagt, als sie auf der Lichtung angekommen waren. Im gleißenden Sonnenlicht waren sie vor den Bremsen sicher. Zumindest kamen nur noch so wenige, dass sie sich mühelos vor ihnen wehren konnten. Sie saßen auf einer alten verwitterten Holzbank mit ihren Schuhen auf der Sitzfläche und ihre Arme um die angewinkelten Beine geschlungen.
-- ,,War wohl eher ein Albtraum?'', stellte Frauke, die sich den Schweiß von der Stirne wischte, fragend fest.
-- ,,Ja, ein Albtraum, allerdings kamen bisher noch in keiner Variante Bremsen vor, aber dennoch sind all diese Träume schlimmer gewesen, als das eben erlebte.''
-- ,,Noch schlimmer?'', fragte Frauke in nicht nur gespieltem Entsetzen. ,,wir haben Burbacki und Gumbrecht verloren, vielleicht haben wir uns sogar verlaufen, überall lauern diese bescheuerten Tiere, die Dornen zerkratzen meine Haut und zu allem Übel muss man noch Angst haben, von Jägern erschossen zu werden!''
Auf dem Trampelpfad lagen überall Schrothülsen, teilweise alt und verrottet aber auch neue, die so aussahen, als wären sie eben erst aus dem Gewehrlauf ausgeworfen worden. Was sie aber am meisten irritierte, waren die ständigen Schüsse, die immer näher zu kommen schienen. Burbacki war abrupt stehen geblieben und hatte sich geweigert weiter zu laufen, als er auf einen Haufen alter Hülsen tappte und gleichzeitig ein erster Schuss wie ferner Donner ertönte. Gumbrecht hatte ihn vergeblich versucht zu beruhigen mit der Bemerkung, dass seiner Meinung nach noch Schonzeit sei. Er habe es auf einem Schild gelesen.
-- ,,Ja, Sie haben das Schild gelesen, aber haben es auch die Jäger gelesen?'', hatte Burbacki eingewandt und fragte dann noch sarkastisch, während er eine ziemlich frisch aussehende Patrone vom Boden aufhob, ob die Schonzeit auch für Menschen gelte?
Eine Frage, die Burbacki selbst zu diesem Zeitpunkt als Galgenhumor betrachtete. Mit zitternder Hand hatte er die zerfetzte Hülse Gumbrecht entgegen gehalten und geraunt, dass sie noch warm sei. Der Bodenkappe aus Messing unter dem zerfetzten Kunststoffpfropfen glitzerte in der Sonne. Gumbrecht nahm sie und erklärte lachend und in einem Ton, wie man ihn bei kleinen Kindern gebraucht, dass sie warm sei, weil sie in der Sonne gelegen habe.
Immer wieder kündigte Burbacki an, dass er zurückgehen würde, aber niemand hielt dies für wahrscheinlich, denn Burbacki fürchtete sich ohne die Gruppe und niemand würde ihn zurückbegleiten. Also trottete er sporadisch protestierend neben Gumbrecht einher. Aber auch wenn Burbacki sein mögliches Ende, sei es durch Überanstrengung, tödliche Schrotkugeln oder durch den Biss giftiger Spinnen und Schlangen, immer wahrscheinlicher vorkam, kämpfte er noch wacker um das, was ihm lieb und teuer war, die Zierde seiner Füße. Behutsam setzte er Schritt um Schritt, denn trotz aller Angst und Panik, achtete er sorgfältig darauf, dass er seine schicken Schuhe nicht verdreckte oder an hervorstehenden Wurzeln oder Dornen gar zerkratzte. Geschickt, wie es auch ein geübter Psychologe gemacht hätte, brachte Gumbrecht ein neues Thema auf. Niemand wunderte sich, dass er mit ein paar Fragen rund um Handys nahezu unverzüglich Burbackis volle Aufmerksamkeit gewann. Was es denn für Tarife gäbe, die für ihn interessant seien, wenn er sein Handy gegen ein aktuelles eintauschen wollte. Burbacki schaute Gumbrecht erschrocken und erstaunt an. So als habe ihm gerade ein katholischer Priester eröffnet, dass er eine Ehefrau suche und nun von ihm wissen wolle, wie er am einfachsten eine finden können. Als er sich gefasst hatte, sagte Burbackie, dass es bei seinem Handy nichts zu tauschen gäbe. Aber sicherlich würde man es als Elektronikschritt in einem der zahlreichen Handyshops zurücknehmen. Gumbrecht brauchte kein Interesse zu heucheln, denn er kann sich für alles und jedes Thema zu jeder Zeit begeistern, warum also nicht auch für Handys. Klingeltöne seien zwar interessant aber was ihn eigentlich mehr interessiere, unterbrach er Burbacki einmal, ob es denn auch möglich sei Musik oder Hörbücher mit den Handys abzuspielen. Er könne sich dann im Zug oder so, interessante Vorträge oder Bücher anhören. Irgendwann gelang es ihm dann auch Burbacki für die Etrusker zu begeistern, obwohl es sich doch bei diesem alten Kulturvolk um eine handy- und krawattenlose Gesellschaft handelte. Gumbrecht stellte Scheherazade in den Schatten, getrieben von der Angst vor Burbackis Jammern, denn auch er konnte nicht sicher sein, es allzu lange ohne psychischen Schaden zu überleben. Allerdings bewegten sich Gumbrecht und Burbacki sehr langsam und sie waren kontinuierlich hinter Frauke und Cedrik zurückgeblieben und schon bevor sie vor den Bremsen davonliefen, hatten sie die beiden nicht mehr hinter sich gesehen.
Später als Cedrik und Frauke alleine waren und als ihnen die Schüsse häufiger und der Pfad dunkler vorkamen, wollte Frauke ängstlich von Cedrik wissen, ob er sich sicher fühle. Auch wenn Burbacki ansonsten irrational und hysterisch sei, so wäre doch seine Angst bezüglich der Jäger nicht ganz unberechtigt gewesen. Was wenn ein Jäger sie im Zwielicht für Wild hielte? Sie hatte gespürt, dass auch Cedrik Angst hatte, als er versicherte, dass kein Jäger schießen würde, bevor er sich hundertprozentig sicher wäre. Aber Frauke spürte, dass er es nur sagte, um sie aber vor allem auch sich selbst zu beruhigen.
Im hellen Licht der Sonne auf der Lichtung legte die Angst eine Pause ein und Frauke lauschte Cedriks Beschreibung seines Albtraums.
-- ,,Stell' dir diesen Pfad vor und dass du immer langsamer und schwerfälliger wirst, bis dass du dich fast nicht mehr bewegen kannst, dann verstehst du meinen Albtraum!'', sagte Cedrik. ,,Zuerst ist es wie ein ganz normaler sonntäglicher Spaziergang breiter Weg, Sonnenschein. Ich, ein Kind, an den Händen von meinen Eltern. Dann plötzlich wird der Weg enger und dunkler. Mein Vater vor mir, und ich halte weder seine Hand noch die von meiner Mutter. Schwitzend und stöhnend läuft mein Vater vor mir her. Ohne Rücksicht auf eigene Blessuren zwängt er sich durchs Dickicht und zerbricht überhängende Zweige. Meist sehe ich ihn nur von hinten, denn er schaut sich nur selten um. Mein Abstand zu ihm wächst ständig. Ich solle mich nicht so anstellen, sagt er, wenn er sich umdreht, denn er mache mir doch schließlich den Weg frei. Dicht hinter mir meine Mutter. Ich kann sie kaum hören, aber ich spüre ihren Atem im Nacken. Ab und zu ermahnt sie mich schneller zu gehen, damit wir meinen Vater nicht aus den Augen verlören. Dabei kann man sich auf diesem Pfad nicht verlaufen. Das dichte Unterholz und die Büsche auf beiden Seiten scheinen undurchdringlich. Viel dichter als der Pfad hier. Dann wird der Traum irreal, Arme ranken sich aus den Büschen mir entgegen. Sie versuchen mich aufzuhalten oder vom Weg ins Unterholz zu ziehen. Plötzlich bewegen sich meine Beine nicht mehr. Ich komme nicht mehr vorwärts. Ich versuche auf dem Boden weiterzurobben, aber komme nur noch millimeterweise vorwärts. Lehmiger feuchter Boden. Ich habe das Gefühl, dass ich sofort loslaufen könnte, wenn ich mich nur umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung liefe. Aber meine Eltern haben meine Hände gepackt und ziehen und zerren, aber die Arme aus den Büschen helfen mir, sie halten mich fest.''
-- ,,Bist du noch ein Kind?'', fragte Frauke, und als er sie fragend anschaute, fügte sie hinzu ,,In dem Traum meine ich natürlich!''
-- ,,Eigentlich schon, aber gleichzeitig auch erwachsen. Das ist so eine merkwürdige Mischung. Am Anfang eher ein Kind, dann kurz bevor ich aufwache eher erwachsen.''
-- ,,Ich habe auch oft solche Träume, also ich meine, in denen ich mich nicht mehr bewegen kann!''
-- ,,Es ist nicht nur diese Bewegungsunfähigkeit. Es ist diese fürchterliche Angst auf dem falschen Weg zu sein, aber mein Vater ist sich in dem Traum immer so verdammt sicher, dass er den richtigen Weg kennt.''
-- ,,Und? Hat er recht? ...Ich meine, kommt ihr an, wo ihr wollt?''
-- ,,Keine Ahnung. Ich wache ja immer mittendrin auf. Manchmal schweißgebadet.''
-- ,,Den Traum könnte man einfach deuten ...'', begann Frauke und wurde brüsk von Cedrik unterbrochen.
-- ,,Bitte keine Deutungen. Das ist mit einer der Gründe, weshalb ich bisher niemandem von diesem Traum erzählt habe. Angst vor Deutungsversuchen!'' und dann wechselte er das Thema ,,Also, wenn Burbacki und Gumbrecht noch hinter uns sind, sollten sie bald hier auftauchen! Vielleicht stecken die fest. Ich meine Burbacki steht irgendwo und will nicht mehr weiter. Vielleicht er dort, wo es etwas lehmig war, nicht mit seinen Schühchen durchgehen. Dass der überhaupt gelaufen ist, war schon fast ein Wunder.''
-- ,,Was heißt Wunder? Das war Gumbrechts Redekunst!'', sagte Frauke und fragte dann leiser und vorsichtig, ob er Angst davor habe, dass man seinen Traum falsch interpretieren könnte.
Cedrik sagte, dass er überhaupt nichts von Traumdeutungen halten. Für ihn seien Träume Schäume.
-- ,,Für mich ist diese ganze Traumdeuterei nur Hokuspokus. Also im Prinzip ist es ja ganz nett und klingt oft ganz überzeugend, aber trotzdem ist das ganze sehr unwissenschaftlich. Irgendwo glaube ich mal gelesen zu haben, dass manche heute in der Psychologie davon ausgehen, dass es eigentlich gar keine Interpretationen gibt. Das Gehirn nutzt lediglich die Zeiten in der Nacht, um aufzuräumen und zu entrümpeln.''
Cedrik schweigt eine kurze Weile und sagt dann, dass es nichts mit einem unbewältigten Ödipuskimplex oder so zu tun habe. Aber es helfe ihm nicht weiter wenn jemand versuche durch Traumdeutungen seine Eltern schlecht zu machen.
-- ,,Das wollte ich doch nicht!'', wehrt sich Frauke.
-- ,,Nein, ich meinte das ja eher ganz allgemein. ... Ich will natürlich nicht sagen, dass sie keine Fehler in ihrer Erziehung gemacht hatten, aber was bringt's, wenn man ständig darauf herumreitet? Etwas, was man sowieso nicht mehr rückgängig machen kann. Warum sie also schlecht machen? ...Es klingt irgendwie blöd, aber es ist so, dass sie doch im Prinzip nur mein Bestes wollten.''
-- ,,Du bist wirklich ein lieber Junge!'', sagt Frauke und schaut ihn dabei liebevoll an. So wie es immer seine Mutter getan hatte, wenn er etwas besonders Liebes gesagt oder getan hatte. Cedrik hatte das Gefühl, als würde sie ihm nun jeden Moment noch über den Kopf streicheln, so wie es seine Mutter in solchen Momenten getan hatte.
-- ,,Aber ein wenig Kritik kann auch deinen Eltern gegenüber nichts schaden'', sagte Frauke und fragte nach einer Weile ,,Und was ist es, was sie von dir wollen?''
-- ,,Ich verstehe nicht? Was meinst du?''
-- ,,Du sagtest eben, dass sie nur dein Bestes wollten. Was ist das `Dein Bestes'? ''
Cedrik schaute demonstrativ auf seine Uhr und mit einem ,,Burbacki und Gumbrecht müssten längst hier sein!'' unterbrach Cedrik aprupt das Thema. ,,Entweder haben die einen anderen Weg genommen, oder die haben ein Problem. Ich denke, wir sollten zurück. Es macht keinen Sinn alleine weiter vorzugehen!''
-- ,,Nein, in diesen Dschungel kriegt mich keiner mehr rein.'', sagte Frauke beinahe hysterisch schreiend.
Cedrik erschrak über die Heftigkeit ihrer Ablehnung. So stellte er sich nicht das Nein einer Frau vor, die wie sie noch am Tag zuvor in der Hotelbar erklärt hatte, Probleme mit dem Nein sagen zu haben.
Auf der Lichtung war sie energisch. Sie wollte keinesfalls zurückgehen.
-- ,,Also vor uns sieht der Weg auch nicht besser aus!'', sagte Cedrik.
-- ,,Dann bleibe ich hier sitzen ...''
-- ,,Bis es dunkel wird und die Fliegen auch hierher kommen?'', sagte Cedrik.
-- ,,Lass uns einfach noch ein wenig hier sitzen!''
Sie saßen schweigend nebeneinander, ihre Blicke nach innen gekehrt. Außer dem Zirpen der Zikaden und Grillen schien es keine anderen Geräusche zu geben, ab und zu in der Ferne das kaum wahrnehmbare Quaken von Fröschen. Die Jäger schienen eine Pause eingelegt zu haben, oder sie hatten ihr Treiben für diesen Tag beendet.
Leise und fast unhörbar, während er auf den Boden starrte, fast so als lese er aus den Spuren der Waldameisen vor.
-- ,,Eigentlich wäre ich gerne Musiker geworden ...''
Suchend schweiften seine Blicke über den Boden, folgten einigen Ameisen, die irgendwelche Körner mit sich schleppten.
-- ,,Und? ...Warum bist du es nicht geworden?'', ermunterte Frauke ihn weiterzureden.
Mit einem kleinen Stöckchen, das direkt vor ihm lag, ritzte Cedrik eine Furche quer durch den Weg der Arbeiterinnen, die unbeirrt in den neu entstandenen Graben hinabstiegen. Cedrik hielt den Stock hoch und betrachtete die Ameisen, die seinen Stock erklummen hatten.
-- ,,Du kennst meinen Vater nicht!'', sagte Cedrik und ließ dabei eine Ameise auf seinen Daumen krabbeln. ,,Musik liebt er, wenn man sie konsumiert. In der Oper, im Konzert ... aber selber machen? ...Musiker, das sind seiner Meinung nach Lebenskünstler oder Überlebenskünstler, was bei ihm so viel wie Hungerleider oder so bedeutet. ...Aus mir sollte etwas Anständiges werden ...Ich sollte einen seriösen Beruf wählen ...''
Cedrik spielt mit der Ameise, lässt sie zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her laufen.
-- ,,Und das war die Mathematik ...''
-- ,,Für meinen Vater?'', rief Cedrik aus ,,Besser als Musiker, aber ein Mathematiker war für meinen Vater auch nichts Erstrebenswertes. ...Aber es war ein Kompromiss ...'', sagte Cedrik und verzog dabei engewidert sein Gesicht, während er die Ameise zwischen Zeigefinger und Daumen zermalmte, ,,Ich habe meinen Vater enttäuscht!''
-- ,,Kompromiss zu was?'', wollte Frauke wissen.
-- ,,Zwischen einem seriösen Beruf und einer ... unakzeptablen Beschäftigung wie Künstler.
-- ,,Aber es gibt doch viele, die ein beachtliches Einkommen als Musiker haben?''
-- ,,Wenige, nur wenige, so wie im Lotto. Die meisten kämpfen um die nackte Existenz!''
-- ,,Sagt dein Vater?''
Cedrik schaut sie überlegend an und sagt dann, dass sein Vater hierbei wohl recht habe. Eigentlich habe er es auch selbst eingesehen, dass Musik nicht das richtige für ihn sei, nicht nur wegen seinem Vater.
-- ,,Es klingt nicht so!'', sagt Frauke.
-- ,,Wie meinst du das?''
-- ,,Wenn du sagst, dass du es eingesehen hast, klingt soviel Trauer und Resignation in deiner Stimme ...''
-- ,,Nein, mir hat mein Studium gefallen ...''
-- ,,Und deine Arbeit?''
-- ,,Nicht das, was mein Vater unter einer ordentlichen Arbeit versteht!''
Hohes Ansehen und Geld verdienen, seien die beiden Kriterien für seinen Vater. Deshalb war klar, dass seine Söhne Jura studieren sollten oder Medizin.
-- ,,Ärzte und Juristen, die stehen ganz oben bei meinem Vater!'', sagte Cedrik verachtungsvoll.
-- ,,Jurist?'', fragte Frauke ungläubig, ,,Gibt es da nicht auch viele, die ihr Leben als Winkeladvokaten fristen?''
-- ,,Also Winkeladvokaten sind solche, die im Prinzip keine Juristen sind, also die keine Uni gesehen beziehungsweise abgeschlossen haben.'', verbesserte sie Cedrik, ,,aber du meinst bestimmt die ganzen Juristen, die Kanzleien haben, die sich nicht richtig tragen, oder die bei anderen Juristen schlecht bezahlt mithelfen? ...Weißt du, diese Gefahr hätte es für mich und meine Geschwister nicht gegeben. Die Kanzlei meines Vaters floriert! Der beschäftigt einen Stall voll Juristen und Steuerberater. Es ist die größte und angesehenste Kanzlei der Stadt. Was sag' ich, des ganzen Landkreises. Es gibt keine offizielle Veranstaltung der Stadt, zu der mein Vater nicht als Ehrengast geladen wird. Alles was Rang und Namen hat in weitem Umkreis gehört zu den Bekannten und Freunden meines Vaters.''
-- ,,Und Mathematiker ist kein seriöser Beruf für deinen Vater?''
-- ,,Natürlich nicht, sagte ich doch schon. Wenn ich wenigstens Chef wäre in der Firma, dann wäre das etwas anderes.'', sagte Cedrik.
-- ,,So toll finde ich Gumbrechts Arbeit auch wieder nicht ...Im Prinzip ist der doch so etwas wie ein Buchhalter. Immer das gleiche. Füllt Formulare aus,stellt Anträge und muss sich noch mit seinen Mitarbeitern rumärgern und das ganze für ein paar Euro mehr ...'', begann Frauke und wurde von Cedrik unterbrochen.
-- ,,Was heißt Gumbrecht? Nein, für meinen Vater müsste es schon mindestens Baumeisters Stelle sein. Entwicklungsleiter, das wäre etwas! ...Der hat es bis heute nicht verwunden, dass ich freiwillig auf seine Praxis verzichtet habe, um ein Leben als kleiner Mathematiker zu fristen.''
-- ,,Aber warum wolltest du eigentlich nicht? ...Ich meine, so schlecht ist Jura doch auch nicht. Und wenn man dann noch so tolle Zukunftsaussichten hat?''
-- ,,Was sind das für Aussichten, wenn alle immer nur sagen, dass man sich doch nur ins gemachte Bett gesetzt habe ...Ich wollte mein Leben selbst gestalten! Etwas leisten, worauf ich selbst stolz sein konnte.''
-- ,,Das ist doch nur am Anfang so. Schau dir doch mal die ganzen Reichen an. Wieviele haben es selbst geschafft. Die meisten haben doch geerbt. Wenn die alle auf ihr Erbe verzichtet hätten ...''
-- ,,Eigentlich sind es gar nicht die anderen.'', unterbrach Cedrik sie. ,,Ich hätte selbst vor mir keinen Respekt gehabt. Ich wäre mir immer wie ein Nichts vorgekommen, einer der im Schatten seines Vaters steht. Wenn du willst kannst du das auch einen Ödipuskomplex nennen ...''
Cedrik wurde plötzlich mitten im Satz durch zwei Schreie unterbrochen. Frauke krallte sich fest an Cedrik, der sie in die Arme nahm.
-- ,,Das ist weit weg ...'', versuchte Cedrik sie und gleichzeitig auch sich selbst zu beruhigen.
-- ,,Und das?'', flüsterte Frauke kaum hörbar, während sie in Richtung des Pfades zeigte, von wo sie gekommen waren.
Man brauchte nicht über die geschärften Sinne eines Jägers zu verfügen, um die Geräusche richtig zu interpretieren. Auf dem Pfad von dem sie gekommen waren, rannte wahrscheinlich mehr als eine Person in ihre Richtung. Sie rannten in Panik ohne Rücksicht auf den Lärm, den die zerbrechenden Äste oder Zweige unter ihren Füßen machten.
© Bernd Klein