Der andere Nebel

Ob alles mit ihm in Ordnung sei, fragte Garda. Der Weg war wieder breiter geworden, nachdem sie das Geröllfeld, hinter sich gelassen hatten, welches ihn so sehr an den Kilimandscharo erinnerte. Vor ihnen, außerhalb der Hörweite, wanderten Sylvia und Wolff nun alleine. Garda war stehen geblieben, um auf Lutz zu warten.

-- ,,Warum?'', fragte Lutz zurück.

Das Seminar sei ja noch nicht fertig, glaubte sie ihn trösteten zu müssen. Er erhielte noch andere Möglichkeiten, Führungsverhalten zu trainieren. Garda war zu ihm gegangen, weil er so traurig wirkte, als er alleine hinter ihnen hertrottete. Lutz war immer weiter zurückgefallen und schien völlig in Gedanken versunken. Sie fürchtete, dass sie als Kursleiterin einen Fehler gemacht hatte. Es war ihr nicht gelungen, ihn zu ermuntern, die Leitung der kleinen Gruppe für eine kleine Weile zu übernehmen.

Manchmal sei es gar nicht so leicht so einen Kurs zu leiten, sagte sie wie eine Entschuldigung zu Lutz. Schließlich gäbe es die verschiedensten Charaktere und jeden müsse man anders behandeln. Ja, könne er sich gut vorstellen, stimmte ihr Lutz vorsichtig zu. Garda spürte, dass Lutz sich bewusst war, dass es um ihn ging. Er würde sich schützen, wenn sie versuchte, seinem Problem auf die Spur zu kommen.

-- ,,Jeder ist anders ...in so einer Gruppe ...Manchen ist richtig schwer bei zu kommen ...''

-- ,,So wie Burbacki ...''

-- ,,Der ist auffällig, aber eher nicht so schwierig ...'', sagte Garda und schwieg eine Weile.

-- ,,Das Problem liegt auch häufig nicht in den einzelnen Personen, sondern an deren Beziehungen zueinander. ...Wenn alle aus einer Firma kommen, dann ist es oft besonders problematisch. Dann bringen die Teilnehmer ihre Probleme aus der Firma mit. Rivalitäten, Machkämpfe, Antipathieen ... ''

Sie war irritiert, denn Lutz schien ihr nicht zuzuhören.

-- ,,War es das wert?'', fragte Lutz, damals auf dem Uhuru Peak.

Alleine mit Nassor war er weiter auf den Kibo aufgestiegen.

-- ,,Die Zukunft wird dir eine Antwort geben!'', kam damals Nassors Stimme aus dem weißen Nichts.

Nasssor war kaum drei Meter von ihm entfernt, aber er konnte ihn nur schemenhaft erkennen. Der schönste Sonnenaufgang Afrikas verbarg sich hinter dem Nebel. Von scharz über grau wechselte der Nebel in weiß. Die anderen Träger waren mit Matthias abgestiegen. Wie aus dem Nichts war der Nebel plötzlich erschienen. Stundenlang steigen sie bei klarer Sicht auf und kurz vor dem Gipfel zog es sich plötzlich zu. So sei der Berg halt, hatte Nassor ungerührt gesagt. Er fühle sich betrogen, jammerte Lutz. Tagelange Strapazen und körperliche Entbehrungen und dann diese Brühe. Er sei zumindest oben gewesen, sagte Nassor und plötzlich dachte Lutz an Matthias. Er hatte nicht mehr an ihn gedacht, seit sie ihn verlassen hatten. Lutz war sich sicher gewesen, dass es ihm wieder besser gehen musste. Sie wären mittlerweile so weit abgestiegen, dass er nicht mehr an der Höhe leiden würde.

-- ,,Wenn ich es nicht besser wüsste'', sagte Garda zu Lutz, ,,könnte ich glauben, dass Sie und Winfried in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen!''

-- ,,Wie meinen Sie das?''

-- ,,Eben zum Beispiel: Ich hatte das Gefühl, dass Sie sich nur nicht trauten, weil er in der Nähe war.''

-- ,,Das hat mit trauen überhaupt nichts zu tun!'', sagte Lutz barsch, um ihr zu signalisieren, dass er darüber nicht weiter sprechen wolle.

-- ,,Er ist doch nicht Ihr Chef?'', bohrte sie dennoch weiter.

-- ,,Nein, eigentlich nicht ...'', sagte Lutz, ,,Außer, dass er ein großes Projekt leitet und da bin ich ihm gewissermaßen unterstellt!''

Ob es vielleicht damit zusammenhinge, dass er vorher die Führung nicht habe übernehmen wollen?

-- ,,Ich brauch das nicht'', sagte Lutz ziemlich laut und zeigte damit, wie sehr ihn ihre Frage bewegt. ,,Als ob man nur glücklich sein könnte, wenn man andere rumkommandiert, wenn man andere dazu bringt Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen.''

Garda brannten die Argumente aus ihren Motivations- und Führungskursen auf der Zunge. Führung, das heißt motivieren, Mitarbeiter zu begeistern. Führung, das sollte Verführung bedeuten, sagte Garda immer in ihren Kursen. Mitarbeiter verführen, dass sie aus eigenem Antrieb aktiv werden, ohne jeglichen Druck und mit Spaß das tun, was von ihnen erwartet wird. Führen heißt auch Weichen stellen, aber nur dann, wenn Entwicklungen sonst die falsche Richtung nähmen. Motivationsbarrieren erkennen und beseitigen war auch eine der wesentlichen Aspekte guter Führung.

-- ,,Vorhin hatte ich das Gefühl, dass Sie wegen Wolff nicht wollten?'', fragte Garda stattdessen.

-- ,,Das hat damit überhaupt nichts zu tun!''

-- ,,Wo liegt das Problem?''

Lutz schwieg. Wenn er nicht gewesen wäre, dann wären sie nicht zum Kilimandscharo gefahren. Seinem Bruder hatte eine Bildungsreise durch Griechenland vorgeschwebt. Ihr Vater hatte ihnen diese Reise geschenkt, dafür, dass Matthias sein Studium beendet und Lutz sein Abitur bestanden hatte. Ihr Vater sagte auch, dass sie doch vielleicht nach Griechenland könnten. Aber Lutz wollte unbedingt etwas Abenteuerlicheres unternehmen. Matthias sträubte sich dagegen, als Lutz ihm vorschlug zum Kilimandscharo zu fahren. Tagelang hatte Lutz ihm ständig vorgeschwärmt, wie toll so etwas sei. Sein Leben lang habe er davon geträumt auf den Kilimandschara zu steigen. Matthias wunderte sich und sagte, dass er dass nie mitbekommen habe. Er wüsste, dass er immer von Amerika geschwärmt habe, aber der Kilimandscharo sei ihm neu. Das sei doch die Chance ihres Lebens, argumentierte Lutz unentwegt. Später, wenn er erst einmal verheiratet sei und Familie habe, könne er so etwas nicht mehr machen. Er sehe das doch bei ihrem Vater. Der arbeite doch immer, gönne sich nichts. Oder bei ihrem Großvater. Er habe nicht das Gefühl, dass ihrem Vater oder ihrem Großvater Edmund etwas gefehlt habe, hatte Matthias ihm immer wieder hartnäckig widersprochen. Vor allem ihr Opa lebte doch in einer Oase der Selbstzufriedenheit, sagte Matthias und Lutz widersprach, dass dies nicht die Ansicht ihrer Großmutter sei.

Garda fragte weiter behutsam nach, was das Problem zwischen ihm und Dr. Wolff sei.

-- ,,Als ich in der Firma anfing, kümmerte er sich um mich!'', sagte Lutz. ,,Er war wie ein großer Bruder für mich!''

-- ,,Und kommandierte Sie wie ein großer Bruder rum?'', fragte ihn Garda und als Lutz schwieg, fügte sie hinzu ,,Ist doch meistens so zwischen Brüdern?''

-- ,,Nicht immer, manchmal sind es auch die kleinen Brüder, die die großen rumkommandieren ...''

-- ,,Also Sie haben Winfried ...''

-- ,,Nein, nein, ich meinte das nur im allgemeinen. So zwischen richtigen Brüdern.''

© Bernd Klein