Der Wald hat sich gelichtet. Die vier queren nun einen kahlen steilen Hang. Auf dem Weg liegen kleine Gesteinsbrocken. Sie sind groß genug, dass man über sie stolpern könnte, wenn man nicht acht gäbe. Sie zeugen davon, dass das Geröllfeld sich dann und wann in Bewegung befindet. Aber Lutz macht sich keine Gedanken, ob Steinschlag eine reale Gefahr für ihn oder die anderen darstellt. Bilder vom Kilimandscharo, Erinnerungsfetzen huschen durch sein Bewusstsein. Die grau-schwarze Farbe der Felsen und Steine musste die Assoziationen hervorgerufen haben. Wolff führt die kleine Gruppe an und Lutz folgt ihm gedankenverloren nach. Wolff hatte das Tempo beschleunigt, aber Sylvia und Garda, die in einem kleinen Abstand Lutz folgten, schienen damit keine Probleme zu haben, denn sie führen ihre angeregte Unterhaltung weiter. Lutz ist in Gedanken versunken und nimmt nur Bruchstücke ihrer Unterhaltung auf.
Es sei gut, dass sie die Chance ergriffen habe, sagt Garda. Ein Ziel dieser Kurseinheit bestünde darin, Führungsverhalten zu trainieren. Da seien vor allem die gefordert, die normalerweise keine Leitungsposition innehätten. Sie sprach laut genug, oder absichtlich so laut, dass Lutz es mühelos verstehen konnte. Auch wenn Garda sich mit Sylvia unterhielt, war das, was sie sagte, vor allem für Lutz bestimmt. Aber auch ohne ihren indirekten Tadel fühlt er sich bereits schleicht. Wiedermals hatte er die Chance erhalten sich zu bewähren, und er hatte sich geweigert sie zu ergreifen. Wie immer in solchen Situationen fragt sich Lutz, warum er sich immer so konsequent jeglicher Verantwortung entzieht. Warum er lieber wie ein Schaf einem Hammel folgt, oder im konkretem Fall einem Leitwolf. Dr. Wolff hatte keine Probleme damit, denkt er. Der hatte indirekt auch jetzt wieder das Kommando an sich gezogen, obwohl Sylvia offiziell die Gruppe leiten sollte, nachdem Lutz abgelehnt hatte. Für Lutz gibt es eine Zeit vor und nach dem Kilimandscharo. Vorher war er ehrgeizig gewesen. Vorher war auch er ein Wolf gewesen, denkt er. Kein Ziel war ihm hoch genug gewesen. Als sechzehnjähriger sagte er einmal, dass er Bundeskanzler werden wolle. Alle lachten, aber er sagte trotzig, sie sollten nur mal abwarten.
Das Licht der Sonne über dem Geröllfeld erscheint ihm, wie damals im Barafu Camp. Ist es nicht fantastisch, dieses Licht, diese Farben, hatte er damals seinen Bruder zu begeistern versucht. Ein grandioses Naturschauspiel, alleine dafür hätte sich dieser Aufstieg doch gelohnt, schwärmte er damals. Aber sein Begeisterung konnte seinen Bruder nicht erreichen. Matthias schaute ihn nur mit müden flehenden Augen schweigend an. Ein Blick festgebrannt in der Erinnerung aber doch Veränderungen unterworfen. Immer häufiger konnte er in den Gesichtszügen seines Bruders auch etwas Anklagendes sehen. Lutz wehrte sich dagegen. Nichts als Erschöpfung und die Sehnsucht nach Ruhe war damals in sein Gesicht geschrieben, alles andere war nun ein Machwerk seines Gewissens.
Die Sonne hatte rot-golden glänzend knapp über oder nebem dem Mt. Meru gestanden.
-- ,,Wie die leuchtet! Gleich verschwindet sie hinter dem Mt. Meru!''
Matthias, der neben ihm auf dem großen dunkelgrauen Felsblock saß, schwieg immer noch.
-- ,,Ist doch genial?'', fragte Lutz nochmals seinen Bruder.
-- ,,Ist es das wert?'', sagte sein Bruder mit leiser und müder Stimme.
-- ,,Warte nur! Wenn du geschlafen hast, geht es dir morgen sicherlich besser!''
-- ,,Ich weiß nicht!''
Jetzt so kurz vor dem Ziel könnten sie doch nicht aufgeben, ermunterte ihn Lutz. Matthias hustete und sagte, dass er hoffe, schlafen zu können.
Als sie im Barafu Camp angekommen waren, strotzte Lutzt trotz der anstrengenden Tagesetappe noch vor Kraft. Zwecks Akklimation stieg er noch vor dem Abendessen, das ihr Bergführer mit den beiden Trägern bereitete, zweihundert Meter höher, also auf fast 4800 Meter. Zu Matthias, der sowieso keine Lust und auch keine Kraft hatte ihn zu begleiten, sagte er, dass er seine Kräfte schonen solle.
Eine Stunde bevor sie das Barafu Camp erreicht hatten, hörte Matthias plötzlich auf zu jammern. Er habe keine Schmerzen mehr in den Füßen, sagte er schwach hüstelnd zu seinem Bruder.
-- ,,Siehst du! Wenn man will schafft man alles!'', hatte Lutz mit einem gewissen Stolz zu ihm gesagt, so als habe er die Schmerzen von Matthias weggezaubert.
-- ,,Vielleicht ist es gar kein gutes Zeichen!'', sagte Matthias leise und hüstelnd.
-- ,,Jetzt freu dich mal, dass es besser ist und sieh nicht schwarz!'', ermunterte ihn Lutz.
-- ,,Das sind nur die Endorphine. Wirken wie Morphium!'', sagte Matthias beinahe flüsternd.
© Bernd Klein