Dorf auf dem Hügel

Es musste etwas passiert sein, Frauke und Cedrik spürten es sofort, als Gumbrecht von der Toilette zurückkam, wo es laut Aussage des Patrone einen Münzfernsprecher gäbe. Gumbrecht, der bisher als einziger der dreien ruhig und entspannt gewirkt hatte, so als könne ihn nichts tangieren, wirkte nun angespannt und nervös. Obwohl er sich große Mühe gab seine Angst und Aufregung hinter einer zur Schau gestellten Gelassenheit zu verbergen. Unruhig rutschte er auf der vorderen Sitzfläche seines Stuhls umher und schaute sich verstohlen unter den wenigen anderen Gästen um.

Nach der panikartigen Flucht war ihnen dieser kleine malerische Ort auf der Spitze eines Hügels wie der Himmel vorgekommen. Schon von weitem sahen sie die beleuchtete Telefonzelle, die ihnen die Rettung versprach. Gumbrecht, der am besten Italienisch von ihnen sprach, eilte in die Zelle und kam jedoch wenige Sekunden später mit einem Hörer dessen Kabel durchgeschnitten war heraus. Im Ort gäbe es sicherlich genügend Möglichkeiten zu telefonieren.

Auch die nächste Chance entpuppte sich schnell als aussichtslos. Ob sie vielleicht ein Handy dabei hätten, sprach Gumbrecht ein Paar an, dass ihnen auf der schmalen steil ansteigenden Gasse entgegenkam. Eine Gasse mit vielen malerischen Häusern, in der sie sich, wenn sie normale Touristen gewesen wären, gegenseitig fotografiert hätten, die natursteinerne Kirche im Hintergrund. Gott bewahre, nein, exaltierte sich die Dame, die ein kurzes Trägerkleid trug, dass ihre dicken sonnenverbrannten Brüste nach oben drückte. In Deutschland schleppe ihr Mann immer dieses Ding mit sich herum, allzeit bereit für seine Firma, aber für den Urlaub hätten sie -- wobei kurzfristig ein leidender Gesichtsausdruck über das Gesicht ihres Begleiters zu huschen schien - eine Übereinkunft getroffen, dass das Ding im Hotel bliebe, gewissermaßen für den Notfall.

-- ,,Das ist ein Notfall!'', hatte Gumbrecht eingewandt.

Sie schien die letzte Bemerkung überhört zu haben, aber ihr Mann in cremefarbener langer Hose und Polohemd, auf dem ein Krokodil verkündete, dass es möglicherweise ein Markenhemd sei, verstand sofort. Bei ihm währte der Notfall schließlich einen ganzen Urlaub lang. Tag für Tag handylos zu sein. Unruhig wackelte er mit seinen tiefbraunen Zehen, die aus funkelnagelneuen Sandalen lugten.

Er habe ihr ja immer gesagt, dass man das Handy besser immer dabei habe, man wisse schließlich nie, wann ein Notfall eintreffe. Wenn er das Ding wenigstens ausgeschaltet ließe, aber er würde es immer wieder anschalten. Mal sehen, ob nicht eine wichtige SMS oder einer Nachricht auf dem Anrufbeantworter sei. Und wenn dass etwas Wichtiges von seiner Firma käme sei der Abend gelaufen.

Sie würden sicherlich jemand anderes mit einem Handy treffen, sagte Frauke, und die Drei schickten sich an eilends weiterzugehen.

An diesem Abend würde es ihnen schwer fallen. Normalerweise sei hier mehr los, sagte der Mann. Überlaufen sei es aber nie, denn dieser Ort sei ein Geheimtipp, beeilte sich seine Begleiterin, die gerade ihr linkes Ohrläppchen zwischen Zeigefinger und Daumen ribbelte, zu beteuern. Nur Kenner der Toskana und solche, die öfters dort verweilten würden diesen Ort kennen. Ihr stolzer Gesichtsausdruck ebenso wie das zustimmende Nicken ihres Mannes ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich zu dieser elitären Gruppe zählten. Mindestens einmal im Jahr kämen sie hierher und wenn sie in Rente seien, würden sie ganz hier leben, wobei nicht klar war, ob sie den Ort oder die Toskana meinten. Tiefe Furchen im Gesicht des Mannes und leichte Falten unter den Augen seiner Frau zeugten davon, dass dieser Zeitpunkt nicht mehr allzu ferne in der Zukunft läge.

Auf Gumbrechts Frage, warum denn an diesem Abend nichts los sei, erfuhren sie, dass "La Vecchia Cucina" wegen Krankheit geschlossen habe. Während der Saison habe Alberto sein Restaurant normalerweise jeden Tag geöffnet. Nein, sonst gäbe es nichts im Dorf außer oben auf dem kleinen Platz bei der Kirche gäbe es eine kleine Bar, in der aber nur Einheimische verkehrten. Wenn man aber nicht fließend Italienisch spräche, wäre man dort völlig fehl am Platz, sagte der Mann mit dem verfurchten Gesicht und ließ auch keinen Zweifel daran, dass er dieses Kriterium erfüllte.

Er könne zwar italienisch relativ mühelos lesen, aber um an einem Einheimischen-Stammtisch mitzuhalten lange es sicherlich nicht, fühlte sich Gumbrecht wegen der fragenden Blicke von Frauke und Cedrik genötigt zu sagen. Es gäbe allerdings dort nichts zu essen, warnte sie das Paar.

-- ,,Wir brauchen nur ein Telefon, um die Polizei zu verständigen!''

-- ,,Oh, so ernst ist das. Das ist also ein richtiger Notfall!'', sagte das Paar nahezu gleichzeitig und wünschten Ihnen im Weggehen viel Erfolg bei der Suche nach einem Telefon.

Seit der Ruine hatte sich ihre Angst vor der Bande so sehr verstärkt, dass alle es als beste Lösung sahen die Polizei einzuschalten.

Vorher hatte Gumbrecht entspannt und gelassen gewirkt, so als sei die Polizei schon da gewesen und der Alptraum zu Ende. Er rührte genüsslich seinen Expresso, als wäre er nur ein gewöhnlicher Tourist. Er sähe das nicht so, hatte er nur gesagt, als Frauke ihm ihre Ängste dargestellt hatte. Sie traue dem Patrone nicht. Er habe sie alle so genau angeschaut. Gumbrecht sagte, dass dies doch klar sei, wenn sich ein paar Touristen in einer Dorfkneipe verirrten, dann werde man auch in Deutschland angestarrt.

-- ,,Hat's geklappt!'', fragte Frauke ungeduldig, als Gumbrecht zurückkam.

Sie meinte, ob es ihm gelungen sei vom Telefon vor der Toilette ein Gespräch zu führen.

-- ,,Nein, es ist ein Kartentelefon. Der Patrone sagt, dass er keine Karten habe. Aber was am schlimmsten ist, der Kleine ist hier!'', sagte Gumbrecht mit unterdrückter Stimme.

-- ,,Welcher Kleine?'', fragte Cedrik.

Frauke verstand sofort. Es musste der kleine der beiden Helfer von Garda sein, der vor dem sie sich von Anfang hat gefürchtet hatte.

-- ,,Sergio!''

-- ,,Sind Sie sich sicher? Ich hätte eher erwartet, dass er bei unseren Verfolgern wäre, statt hier gemütlich zu sitzen und Wein zu trinken.''

-- ,,Er trinkt ein Bier und er sitzt nicht, sondern er steht am Tresen, '', korrigierte ihn Gumbrecht ,,aber es ist Sergio, Gardas hündischer Gehilfe! So eine Visage vergisst man nicht! ...Ich habe das Gefühl die stecken hier alle unter einer Decke.''

Gumbrecht sagte, dass er glaube, dass der Kleine sie noch nicht gesehen habe, aber sie sollte nun so schnell wie möglich verschwinden.

© Bernd Klein