Goldener Käfig

Ein goldener Käfig war es, dachte Gumbrecht, in dem er gefangen war. Sein Käfig heißt Arbeitsplatzsicherheit. Nahezu unkündbar wegen jahrzehntelanger Betriebszugehörigkeit und weil er über fünfzig Jahre alt war. Ein Käfig dessen Türe er selbst jederzeit öffnen könnte, wenn er nur wollte. Aber draußen lauerte der soziale Abstieg wie eine Katze auf einen Hamster. Auch wenn er sie nicht sehen konnte, würde sie sich aus dem Nichts auf ihn stürzen. Spitze Krallen, die schmerzten, und sich pfeilschnell in sein Fleisch hakten. Langsam und qualvoll. Aber in seinem Käfig bleibt ihm nur sein Hamsterrad. Ein Käfig, der ihn in einer unendlich scheinenden Monotonie gefangen hält, ihn lähmt, entmutigt und ihm seine Lebensfreude raubt.

Nein, dachte Gumbrecht, er war kein Hamster, eher ein Löwe, ein Zirkuslöwe, einer dem man applaudierte, wenn er seine Kunststückchen zur allgemeinen Zufriedenheit vollführte. Ein Löwe, den man mit Leckerbissen verwöhnte, die er in der Savanne vergeblich suchen würde, aber immer drohte die Peitsche. Außerhalb seines Käfigs war die weite Savanne, die Freihet, aber er fürchtete sich. Es war nicht nur die Arbeitsplatzsicherheit, die Angst davor einen neuen Job nicht halten zu können oder gar keinen neuen Arbeitsplatz mehr zu finden. Er fürchtete sich davor und diese Furcht wuchs nahezu zur Gewissheit, dass sich im neuen Job nichts grundlegend ändern würde. Dass dort wieder Tag für Tag glanzlos verstreichen könnte.

Sagte nicht Sallust, dachte Gumbrecht, man müsse sich bemühen mit höchster Kraft danach zu streben, das Leben nicht unbeachtet oder mit Stillschweigen zu verbringen. Seine Füße schmerzten von den Anstrengungen der letzten Tage, so wie sie noch nie zuvor geschmerzt hatten. Dennoch empfand er es als ein angenehmes Gefühl. Sein bisheriges Leben in der Firma war Schmerzvermeidung. Seine Tage waren wie sie nach seiner Auslegung von Sallust nicht sein sollten: stillschweigend auch wenn er noch so viel redete. Jeden Montagmorgen eine neue Variation der Frage von Sylvia oder anderen Kolleginnen und Kollegen, wie sein Wochenende gewesen sei. Aber eigentlich war sie nicht interessiert an dem, was er sagte. Wie sollte sie auch, denn es gab ja nichts zu berichten. Immer wieder, Woche für Woche die gleiche Gegenfrage, und auch er interessierte sich nicht für das, was sie sagte. Belanglosigkeiten. Aber warum sollte sie jemandem, der so offensichtlich kein Interesse zeigte, persönliche Dinge anvertrauen? Jeden Montagmorgen die Abteilungsbesprechung. Blick in müde Gesichter. Leute, die noch im Wochenende weilten und teilweise schon das nächste kaum erwarten konnten. Die ganze Besprechung ein Ritual. Jeder versuchte seine Arbeit der letzten Woche möglichst positiv darzustellen. Hervorhebung von Problemen, die mangelnde Produktivität kaschieren sollen. Es schmerzte nicht, aber es war Zeitvergeudung. Immer öfters ertappte er sich dabei, dass es ihn überhaupt nicht interessierte, was sie sagten oder dass er sogar minutenlang gar nicht zuhörte. Sollte dies so bis zu seiner Pensionierung weiter gehen? Nein, so würde es noch nicht einmal weiter gehen, wenn er nichts tat. Man würde ihm weiter Verantwortung entziehen und warten, dass er endlich in den vorgezogenen Ruhestand ginge. Unendliche Monotonie würde ihn langsam herausquälen.

© Bernd Klein