Wahrscheinlich hatte Gumbrecht die Diskussion in der Pause aufgebracht, denn bereits zu Beginn der zweiten Hälfte des Seminars wirkte Ewa, alias Gumbrecht, angespannt und rutschte unruhig mit einen hochroten Kopf auf seinem Stuhl hin und her. Selbst aus der Entfernung hätten die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminares das Pulsieren seiner Halsschlagader sehen können müssen. Untrügliches Zeichen für diejenigen, die ihn kennen, dass er vor einem Wutausbruch steht. Besonders gut musste man ihn kennen, denn offensichtliche Gefühlsausbrüche sind eine große Seltenheit bei ihm. Aber wenn es um die Etrusker geht, versteht Gumbrecht halt keinen Spaß. Spaß versteht er in der Firma, denn bei der Arbeit hat er ihn schon lange nicht mehr. Wenn jemand seine Arbeit in der Firma tadelt, dann ärgert ihn das zwar, aber es kann ihm nicht mehr unter die Haut gehen, denn wie ein undurchdringlicher Schutzschild umgeben ihn seine etruskischen Kenntnisse und Fantasien. Aus der Firma zieht er schon lange keine Kraft und Selbstvertrauen mehr heraus. Dort hat er schon vor langem seinen Zenit überschritten. Er spürt, dass man mehr seine jahrzehntelange Erfahrung als seine Arbeitsleistung schätzt und keine großen Erwartungen mehr in ihn setzt. Ein Teufelskreis, denn je weniger man von ihm erwartet, desto weniger leistet er und je mehr beschäftigen ihn die mysteriösen Vorfahren der Römer. Sie stärken sein Selbstbewusstsein, aus der Beschäftigung mit ihnen schöpft Gumbrecht seine Lebenskraft. Hier übertrifft er andere. Aber die Etrusker sind auch seine Achillesferse. Ihn dort zu attackieren, sein Wissen in Frage zu stellen, trifft ihn tief im Innern.
Über Jahre hin hat sich Gumbrecht daran gewohnt im Firmen- und auch Bekanntenkreis der unumstrittene Etrusker-Experte zu sein. Selbst Historiker bildeten keine Gefahr für seine Autorität. Fast immer war es so, dass er auf Menschen stieß, die kaum etwas über dieses Volk wussten, aber dennoch eine mystische Begeisterung für sie hegten. Mit ihrer eigenen tiefen Sehnsucht nach Mystik und Geheimnisvollen verwoben sie seine sachlichen Ausführungen zu einer neuen einer nie dagewesenen Wirklichkeit. Gumbrecht war mit Hilfe der Etrusker aus seiner ihm verhassten Arbeitswelt entflohen. Fliehen wollten auch andere. Häufig -- zum Beispiel bei Festen -- war er umringt von Fliehungswilligen. Leute, die ihn und vor allem die Etrusker noch nicht kannten. Aber nur kurzfristig umschwirmten sie ihn. Wie Motten vom Licht so wurden sie vom mystischen Unwissen über die etruskische Kultur angezogen. Aber im Gegensatz zu Motten verbrannten sie nicht in seinen bald langweilig und langatmigen Darlegungen, sondern zogen sich schnellstmöglich zurück, meist bevor sich etwas in ihren Erinnerungen einbrennen konnten. Wenn sie erkannt hatten, dass die Etrusker keine Fluchtmöglichkeit boten. Wenn sie enttäuscht erkannten, dass ihnen Gumbrecht stellvertretend für die Etrusker keine neue Heilslehre bieten konnte. Keine neue Geheimwissenschaft für Ihre Krankheiten, die besser als Bachblüten, Homöopathie oder die heilende Kraft der Steine wäre. Also eine weitere Therapie, die sich ihrer bisher nicht kurierbaren Leiden annehmen würde. Sie wandten sich ab von Gumbrecht und den Etrukern, wenn sie erkennen mussten, dass er ihnen keine neuen Schutzheiligen zum Schutz ihres Seelen- aber auch materiellen Heils für ihr ansonsten glaubens- aber nicht aberglaubensloses Leben zu bieten hatte. Auch versprach er keine neuen Liebeslehren, die ihr erotisches Leben oder das Fehlen desssen aufpeppen würden. Keine neuen Meditiationstechniken, die ihnen das so dringend benötigte Selbstvertrauen liefern könnten.
Als Cutu ein von Gumbrecht benutztes etruskisches Wort in einer anderen Aussprache und einer anderen Betonung wiederholte, explodierte Gumbrecht.
-- ,,Wie kommen Sie dazu meine Aussprache zu korrigieren.'', brüllte Gumbrecht mit hochrotem Kopf, ,,Niemand weiß, wie die Etrusker gesprochen haben!''
-- ,,Ich weiß es!'', sagte Cutu mit einem mystischen Lächeln, was jeden Jesus-Darsteller bei den Passionsspielen neidisch machen würde.
-- ,,Das ist lächerlich! Ein kostümierter Seminarleiter glaubt zu wissen, was kein Experte weiß! ...Niemand kann es wissen, denn wir haben kaum schriftlich Überliefertes. Im Wesentlichen nur Grabinschriften. Wenn es wenigstens Dichtungen gäbe, dann könnte man einiges aus dem Versmaß und gegebenenfalls Reimen schließen. ...'', poltert Gumbrecht und wird von Sylvia unterbrochen.
-- ,,Er meint, das er weiß, dass niemand wisse, wie die Etrusker gesprochen haben!'', sagt Sylvia zu Cutus Verteidigung.
-- ,,Danke Sylvia!'', sagt Cutu in süßlicher Stimme und ergänzt dann ,,Ich meine immer alles so, wie ich es sage, und wenn ich sage `Ich weiß es!', dann weiß ich es!''
-- ,,Ein alternder Hippie in der Toskana weiß wie sie gesprochen haben. Sie sprechen bestimmt fließend etruskisch, haben es mit der Muttermilch schon eingesogen ...'', meldet sich Gumbrecht schäumend vor Wut.
-- ,,Woher wollen Sie wissen, dass es nicht so war?'', sagte ihr Referent mit einem abgeklärten Lächeln.
© Bernd Klein