Kein Weiterkommen im Zug

Wie kleine Jungs im Pfadfinderlager hüpften Gumbrecht und Willach herum. Stolz zeigten sie Garda ihre Holzbündel, die sie im Wald gesammelt hatten. Später, wenn das Feuer richtig brennen würde, würden sie grillen, hatte Garda gesagt und danach sollten sie sich überraschen lassen, hatte sie vieldeutig gesagt. Burbacki hatte gesagt, dass er auf Überraschungen verzichten könne. Das ganze Seminar sei bisher bereits eine einzige grausame Überraschung für ihn gewesen. Garda versuchte ihn vergeblich zu animieren, mit den beiden anderen und ihr Holz zu holen. Seine Kleider seien dazu nicht geeignet.

Cedrik stand weiter abseits, vor den Zelten und wartete auf Frauke, die sich noch ein Bier holen war.

-- ,,Ich habe dir auch eines mitgebracht!'', sagte Frauke bei ihrer Rückkehr und reichte ihm einen Humpen.

Deutlich konnte Cedrik sehen, dass sie sich geärgert haben musste, und sie ließ ihm nur wenige Augenblicke zu spekulieren.

-- ,,Wenn man alles vorher wüsste, dann hätte ich einen großen Bogen um die drei gemacht!'', sagte Frauke.

Cedrik zeigte fragend auf Sylvia, Wollf und Willach und Frauke nickte. Manchmal sei es einfach besser, wenn man nicht so gut höre. Auch wenn Frauke einen Moment schwieg, spürte Cedrik, dass sie gleich weiterreden würde. Sie wartete nicht auf eine Ermunterung.

-- ,,Sylvia sagte, dass wir gut zusammenpassen würden!'', sagte Frauke errötend.

-- ,,Das ist doch nett!''

-- ,,Nicht, wenn du gesehen hättest mit welchem Grinsen und welcher grotesken Gestik sie es sagte! ...Aber das wäre alles noch okay gewesen. ... Wolffs Kommentar war es, der mich auf die Palme brachte!''

-- ,,Was hat er denn gesagt?'', fragte Cedrik nach, als sie schwieg.

-- ,,Vergiss es einfach! Wolff ist ein Scheißkerl! Ich könnte ihnen morden!'', sagte Frauke, die immer noch vor Wut schäumte.

Da habe sie recht, hatte Wolff geantwortet, als Sylvia sagte dass sie gut zusammenpassten. Wolff hatte dann den Kommentar losgelassen, den sie am liebsten vergessen und Cedrik ersparen wollte. Dumotel könne auch froh sein, wenn er eine abbekomme. Nur ein Wort, das Auch, war Wolffs Beleidigung für sie, denn für sie war klar, dass er sie damit meinte. Sie brauchte keinen abzubekommen, wie er es nannte, denn sie war bereits verheiratet. Cedrik war ledig, aber sie wusste nicht, ob er eine Freundin hatte.

Wolff konnte sie eigentlich nicht mehr tiefer verletzen, wie er es bereits vor langem getan hatte. Seitdem hasste sie ihn unversöhnlich. Das, was sie Cedrik erzählen wollte, aber nicht konnte, als Sylvia sie gestört hatte.

-- ,,Findest du mich auch unnahbar?'', fragte Frauke.

Die lebhaften Bewegungen ihrer Pupillen sagten ihm, dass sie die Antwort wirklich interessierte. Eine ehrliche, direkte Antwort wäre gewesen ,,Nicht mehr!'' In der Firma, vor der Toskana, ja, da war sie ihm unnahbar erschienen, aber vor allem in den letzten Stunden waren sie sich näher gekommen, und es war, als stände eine neue Person ihm gegenüber. Dennoch antwortete Cedrik nur mit einer faden Gegenfrage.

-- ,,Warum? Hat er das etwa auch behauptet?''

-- ,,Nicht heute!''

Frauke starrte in Richtung Feuer, welches mittlerweile loderte, und es schien, als wollte sie das Thema beenden. Aber dann kam sie doch auf jenen Tag zu sprechen, als Wolff sie so tief verletzte.

Als hätte sie geahnt, was sie an jenem Tag in der Firma erwarten würde, wollte sie schon nicht aufstehen. Im Bett war sie sicher, vor allem, wenn Holger nicht zu Hause war, denn der würde sie fürchterlich beschimpfen. Sie war froh, dass ihr Mann an diesem Morgen schon früher weggegangen war. Wegen einer Geschäftsreise, war er schon gegen vier aus dem Bett und dem Haus geschlichen. Aber wie jemand, der gar nicht leise sein will. Wie jemand, der nicht verstehen kann, dass andere noch faul im Bett liegen, wenn er bereits auf ist. Nur die Haustüre, die schloss er wirklich leise, denn das hätten ja auch die Nachbarn hören können. In einem Dämmerland zwischen Wachen und Schlafen wurde sie von den Teufeln ihres Unterbewusstseins gejagt. Dennoch riss sie der Wecker aus dem Schlaf. Die Angst saß an ihren Händen und ließ sie schwitzen. Die Beklemmung schnürte ihr den Brustkorb zu, dass sie zu ersticken glaubte. Wenn sie aufstünde, wenn sie zur Arbeit ginge, würde es ihr an diesem Tag schlecht gehen. Sie kannte das Gefühl, und es täuschte sie fast nie. Wie eine Eisenstange auf weitem Feld würde sie die Blitze an sich ziehen. Eisenstangen sind hart, das stimmte nicht an dem Bild. Sie fühlte sich zerbrechlich wie Glas, und stummm wie ein Fisch wäre sie der Aggression der anderen hilflos ausgeliefert.

Nach dem Duschen fühlte sie sich ein klein wenig besser, aber nicht wohl. Es war gut, dass Holger schon weg war, denn an diesem Morgen hätten sie bestimmt gestritten. Holger spürte es, wenn sie in dieser Stimmung war, und er verachtete sie dann. Für ihn war es unverständlich, sich so gehen zu lassen, wie er immer sagte. Für ,,so etwas'' gäbe es keinen Grund. Wenn ihre Tochter, Grusche, nicht gewesen wäre, hätte sie sich auch nach dem wieder in ihr Bett wie in ein Schneckenhaus zurückgezogen. Wenn sie es schaffte, Grusche in den Kindergarten zu bringen, könnte sie nachher immer noch ins Bett gehen, motivierte sie sich weiter zu machen. Sie würde in der Firma anrufen und sich krank melden, und dann wäre sie für ein paar Stunden in Sicherheit.

Es war wohl die Macht der Gewohnheit gewesen, die sie trotzdem in die Firma trotten ließ, obwohl sie sich zu schwach fühlte. Voller Angst und verwundbar. Verfurchtbar, war ihre Wortschöpfung für den Zustand, in dem ihr alles und jeder Furcht einflößen konnten. Wie ein Delinquent seiner Bestrafung entgegen betrat sie die Firma. Später als sonst. Nur schnell eine Tasse Kaffee aus der Kaffeeküche holen und sich in ihrem Büro verkriechen. Wenn sie Glück hätte, würde sie niemand stören.

Aber in der Küche stand Wolff und dozierte. Willach war gerade dabei neuen Kaffee aufzustellen. Zwei Studenten, die in der Firma ein Praktikum absolvierten, waren Wolffs Opfer. Wie immer sollten seine Opfer nichts lernen. Sie brauchten nichts zu verstehen. Im Prinzip legt Wolff Wert darauf, dass man nichts begreifen konnte. Seine Opfer sollten nur einsehen, wie sehr er intellektuell über ihnen stehe.

In Fraukes Fall gelang ihm das immer vortrefflich, wenn sie sich auch immer größte Mühe gab, es ihm nicht zu zeigen. Sie fühlte sich immer wie ein Versager, wenn er prahlte. Sie fühlte sich als Blender, und Wolff hatte sie durchschaut.

-- ,,Der ist nicht so schlau wie er tut!'', hatte Cedrik vor ein paar Stunden bei der Wanderung zu ihr gesagt. ,,Ich habe mir einmal seine Doktorarbeit kommen lassen. Eine reine Bastelarbeit und ein wenig Theorie geschickt aus verschiedenen Büchern zusammengeschmiert! Als Praktikumsarbeit in den ersten Semestern brauchbar, aber als Doktorarbeit einfach lächerlich!''

Als Cedrik dies zu Frauke sagte, empfand sie es wie eine Aufwertung ihrer selbst. Aber gleichzeitig unterstellte sie Cedrik Neid. Schließlich gehörte auch Cedrik zu denen, die ihrer Meinung nach überdurchschnittlich intelligent waren. Auch in Cedriks Gegenwart hatte sie sich in der Firma nie richtig wohl gefühlt. Auch bei ihm hatte sie immer das Gefühl, dass er so weit über ihr stand, und sie so klein und unbedeutend sei. Allerdings war es bei Cedrik anders als bei Wolff. Cedrik versuchte nie sich selbst in den Vordergrund zu spielen. Er wirkte immer bescheiden, ja manchmal richtig schüchtern, so als wäre er sich seines Könnens selbst nicht sicher. So als habe er selbst keine hohe Achtung vor sich selbst. Einmal dachte sie sogar, was wenn auch Cedrik keine Selbstachtung hätte, so wie sie, aber dann verwarf sie es. Cedrik konnte wirklich etwas, und sie konnte sich nicht mit ihm messen.

Als sie Wolffs Stimme aus der Kaffeeküche schallen hörte, arrogant wie immer, stutzte sie, wollte nicht hineingehen, aber dann betrat sie doch den Raum, verstohlen, wie ein Kind, dass ein Verbot gebrochen hatte. Sie hauchte nur ein undeutliches beinahe ängstliches Morgen in die Runde, schaute auf die Fliesen, dann zur Kaffeemaschine, alle direkten Blickkontakte meidend. So schnell wie möglich wollte sie sich einen Kaffee einschenken und den Raum wieder verlassen. Aber während sie den Kaffee ausschenkte, trat Wolff wie zufällig einen Schritt zur Seite und blockierte den Eingang. Plötzlich kam es ihr so vor als würde er nicht weichen, und sie müsste sich an ihm vorbeiquetschen.

Plötzlich erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit ihrem Mann. In diesem Moment erschien ihr das als eine völlig irrationale Assoziation. In einem Zug hatte die schicksalshafte Begegnung stattgefunden. An einem eisigen Januarmorgen mit heftigen Schneefällen. Mit ihren Koffern zwängte sie sich durch die überfüllten Abteile eine Zuges. Statt außen auf die Wagennummern zu achten, war sie einfach eingestiegen, um dann im Innern festzustellen, dass ihre Sitzplatzreservierung weiter vorne im Zug war. Ein routinierter Zugfahrer wäre einfach wieder mit den Koffern ausgestiegen und wäre auf dem Bahnsteig entlang des Zuges zum richtigen Wagen geeilt. Zeit genug wäre gewesen. Aber es war ihre erste große Zugfahrt gewesen, und sie hatte natürlich Angst, dass ihr dann der Zug vor der Nase wegfahren könnte. Während sie sich durch die verstopften Abteils vorwärtszwängte, wobei sich immer wieder ihr Koffer zwischen anderen Gepäckstücken verkeilte, dachte sie, dass es gut sei, dass sie sich einen Platz reserviert hatte. Sie hätte ansonsten sicherlich stehen müssen. Aber dann in einem dieser Wagen mit separaten Wagons und einem schmalen Flur, ging es nicht mehr weiter. Zehn Meter vor ihr stand er, ein todschicker Geschäftmann mit schwarzer Aktentasche und passender Reisetasche. Sie zögerte sich an ihm vorbeizuquetschen.

-- ,,Vorne wird es nicht besser!'', kommentierte er ihr Zögern, ,,Nach mir kommen noch ein paar größere Brocken!''

Er hatte recht. Ein paar Meter weiter von ihm stand ein weiterer Geschäftsmann, der mit mehr Gepäck umgeben war und auch von der Statur so wirkte, dass es schwer würde an ihm vorbeizukommen. Warum an diesem Man vorbeikrabbeln und dann bei einem anderen Mann, der ihr nicht so sympathisch erschien festzustecken. Also blieb sie bei dem, der ihr schon von weitem so ordentlich und attraktiv vorgekommen war.

So voll sei der Zug, dass es noch nicht einmal in der ersten Klasse freie Plätze gegeben hätte, sagte der Mann, der sich wenig später als Holger Binder vorstellte. Glücklich könne sich schätzen, wer sich frühzeitig eine Karte reserviert habe. Für sie war die Zugfahrt ein Abenteuer und der Mann neben ihr erschien ihr so mondän und sie fühlte sich als das naive Mädchen vom Land. Eigentlich genieße er es im Zug zu arbeiten, aber heute sei das eine Ausnahme, denn ohne Sitzplatz wäre es wohl schlecht möglich. In ein paar Stunden sei er in Kalifornien, Er freue sich schon auf das dortige schöne Wetter. Ehrfurchtsvoll lauschte sie ihm, als er ihr von Sacramento erzählte, beinahe beiläufig, so als sei es nichts Besonderes.

Wolff in der Türe hat nichts mit Holger damals im Zug gemeinsam, denkt Frauke und geht mit ihrer Tasse Richtung Türe. So wenig wie ihr Mann mit dem damaligen Holger heute noch zu tun hat.

-- ,,Wolln wir mal nicht so sein und lassen sie raus!'', sagt Wolff, als er im letzten Moment ausweicht.

Auf dem Rückweg begleitet sie das Gelächter der zwei Studenten. Aber noch bevor sie den sicheren Hafen ihres Büros erreicht hatte, bemerkte sie, dass sie vergessen hatte Milch in den Kaffee zu gießen. Obwohl sie Kaffee ohne Milch hasste, überlegte sie ernsthaft, ob sie ihn nicht an diesem Morgen schwarz trinken sollte, aber entschied sich dann dennoch in die Höhle des Löwen zurückzukehren. Selbstsicher und energisch wollte sie auftreten, aber je näher sie kam wurden ihre Schritte zaghafter und damit leiser und langsamer. Von weitem hörte sie ein Kichern und Lachen, ein Zeichen, dass Wolff vom Fachlichen ins Profane gewechselt hatte. Wenn Sie einfach hineingegangen wäre, hätte sie sich viel erspart, aber wie festgefroren blieb sie unbemerkt von Wolff und den anderen vor der Kaffeeküche stehen und konnte deutlich hören, was Wolff über sie flüsterte. Ein Theaterflüstern, eines worauf wohl die meisten Schauspieler neidisch wären. Eines, was man deutlich in den letzten Rängen hören kann und dennoch vertraulich wirkt.

Frauke stockte, sie schämte sich, Cedrik alles zu erzählen.

© Bernd Klein