Cedriks Büro liegt im Schnittpunkt zweier schier endlos langer Flure, so lang, dass sie das Parallelen-Axiom zu widerlegen schienen. Wände, die in einem Punkt zusammenzulaufen schienen. Aus einem der beiden Punkte, dort wo auch Gumbrechts Büro lag, schälte sich eine freundlich gestikulierende Gestalt. Plötzlich zweifelte Cedrik, ob es wirklich richtig gewesen sei, Nepal zu verlassen. Kathmandu hauchte er in Gedanken wie eine Beschwörungsformel, während seine Lippen die Laute formten. Auf dem Königsplatz umringt von Leuten, die Hektik unserer Welt nicht zu kennen schienen. Leute, die noch über den Sinn des Lebens und nicht nur über Geld nachdachten, auch wenn die zahlreichen Straßenverkäufer, die einen immer wieder anquatschten, um einem irgendwelchen touristischen Müll zu verkaufen. Wenn Gumbrecht so betont freundlich war, schrillten bei Cedrik die Alarmglocken. Welchen Mist hatte er auserkoren, mit dem er ihn nun beglücken wollte.
-- ,,Wir haben die Lösung'', jubelte Gumbrecht schon von weitem.
Er sei eben erst gekommen, wehrte Cedrik ab.
-- ,,Oh ja, habe ich ganz vergessen. Wie war denn der Urlaub? Vier Wochen?''
-- ,,Dreieinhalb!''
-- ,,Verdammt lang. War bestimmt super?'', und dann beantwortete Gumbrecht, wie es seine Art wie, seine Frage gleich selbst ,,Eine ganz andere Kultur und Denkweise. Die fantastische Landschaft. Die Berge! So einen Dalai-Lama könnten wir hier auch brauchen.''
-- ,,Der Dalai-Lama ist aber in Tibet!'', sagte Cedrik.
-- ,,Weiß ich doch!'', wehrte sich Gumbrecht, der es nie verwinden kann, wenn er einen Fehler macht.
Und Cedrik wusste, dass Gumbrecht, nicht weiter an irgendwelchen Details seines Urlaubs interessiert war.
-- ,,Also dann wünsche ich Ihnen einen guten Arbeitsanfang!'', sagte Gumbrecht.
Cedrik freute sich schon, dass er ihn nun vielleicht doch mit seiner Lösung vorerst verschonen könnte, aber Gumbrecht machte weiter.
Er müsse ihm aber noch schnell die Studie zeigen, sie sei schon fertig. Sensationell, jubilierte Gumbrecht. Er solle mal schnell mit ihm ins Büro kommen. Er könne ja dort seinen Kaffee trinken. Gumbrecht freute sich wie ein Kind, dass gerade Bescherung vom Christkind erfahren hatte. Professor Bellinger sei halt schon ein kompetenter Mann.
-- ,,Wieso kann die Studie fertig sein, wenn ich noch nicht einmal die Spezifikation dazu geschrieben habe.''
Gumbrecht wunderte sich. Er sagte, dass Dr. Wolff es anders dargestellt habe. Er habe ihn und Frau Gortsworst sogar gelobt.
-- ,,Wieso Frauke Gortsworst?''
-- ,,Die hat doch die Spezifikation während Sie in Urlaub waren, fertig gestellt!''
-- ,,Also die Spezifikation, die ich vor meinem Urlaub nicht begonnen habe, hat sie fertig gestellt?''
-- ,,Also Dr. Wolff sagte ...''
-- ,,Und Bellinger hat die Studie für die nach seinen eigenen Angaben drei Monate veranschlagt worden waren -- und wohl auch in Rechnung gestellt worden sind -- in vierzehn Tagen fertig gestellt?''
-- ,,Mann-Monate, drei Mann-Monate. Das entspricht ja nicht der benötigten Zeit.'', verbesserte ihn Gumbrecht.
-- ,,Mir ist auch bekannt, dass Zeitmonate nicht gleich ...'', dann zögerte er kurz und verbesserte Gumbrechts Mann-Monat in die politisch korrekte Form ,,Arbeitsmonate sind. Aber das heißt, dass sich Bellinger sechsmal geklont haben muss ...''
-- ,,Ein Mitarbeiter hatte schon eine Weile an dem Thema gearbeitet ...''
-- ,,Ich dachte immer, dass Fachhochschulprofessoren keine wissenschaftlichen Mitarbeiter haben? Also ich meine welche, die promovieren.''
-- ,,Prof. Bellinger hat seine Studie auf einer Seminararbeit, die natürlich auch auf Ideen von Bellinger beruhte, aufgebaut! Schauen Sie sich die Studie doch einfach mal in Ruhe an ...''
-- ,,Am Brown-Tashinen-Problem beißen sich Doktoranden an den besten Unis der Welt die Zähne aus und bei Prof. Bellinger löst ein Student in einer Seminararbeit ein unlösbares Problem. Schön, dann wird wohl ein Nobelpreis an unsere FH gehen!'', höhnt Cedrik.
Von Bellinger erwartete er nichts. Vor seinem Urlaub hatte er ihn in einem, wie Wolff damals betonte, spontan einberufenen Vortrag kennengelernt. Im Laufe des Vortrages wurde klar, dass Wolff und Bellinger sich schon lange kannten, dass sie früher sogar schon einmal in der gleichen Firma gearbeitet hatten. Im Laufe seines Studiums hatte Cedrik viele Koryphäen kennengelernt, aber während seines Vortrages suchte Cedrik fieberhaft aber dennoch vergeblich nach Übereinstimmungen. Er erinnerte sich an einen Gastvortrag von Jan Gromski, einer der bedeutendsten Mathematiker unserer Zeit, der sich aber auch einen Namen in der theoretischen Informatik gemacht hatte. Vorne übergebeugt mit gewölbten Schultern schlürfte er auf das Podium. Sein Kopf gesenkt, und er wirkte tief in Gedanken versunken. So als überlegte er noch, was er eigentlich erzählen sollte. Das Geraune im Audimax schien er nicht wahrzunehmen. Für ein paar Sekunden steht er mit dem Rücken zum Publikum vor den extra für ihn aufs Gründlichste geputzten riesigen Tafeln. Er wirkte verloren in seinem alten abgetragenen Anzug, aber plötzlich schnappte er sich ein Stück Kreide und dreht sich um. Selbst in der letzten Reihe konnten Sie das Blitzen und Funkeln der Begeisterung in seinen Augen sehen. Dann verblüffte er die Menschen im Hörsaal und erklärte ihnen, dass er nicht über das reden werde, was in der Einladung stünde und weshalb die Meisten wohl gekommen seien. An diesem Morgen habe er eine fantastische Idee gehabt, und er wolle die Gelegenheit nutzen, sie gleich einem großen Expertengremium vorzustellen. Nur wenige konnten seinem Beweis folgen, aber alle spürten, dass sie einer Weltpremiere beiwohnten. Es war der noch ausstehende Beweis, dass sich das Brown-Tashinen-Problem nicht in polynomieller Zeit implementieren ließe.
Ganz anders der Auftritt von Bellinger. Selbstbewusst wie ein erfolgsgewohnter Politiker ging er zum Whiteboard. Bei ihm ging es nicht um die Sache, sondern darum die Sache und sich selbst optimal zu vermarkten, den Preis möglichst hochzutreiben. Bellinger war so wenig Wissenschaftler, wie ein Sportprofi Künstler. Sein Vortrag war gespickt mit Fremdwörtern und bespickt mit modischem Denglish. Zeitweise kamen deutsche Wörter nur noch so selten vor, dass man glauben konnte, er spreche Englisch mit einem harten deutschen Akzent. Ständig benutzte er wissenschaftliche Begriffe unpassend und allzu häufig auch schlicht falsch. Was Cedrik jedoch am meisten entsetzte, war das allgemeine zustimmende Nicken und Verständnis zeigende Lächeln im kleinen Zuhörerkreis. Selbst Gumbrecht, der zwischen Baumeister und Wolff saß, zeigte Zustimmung, wenn sie auch in seinem Fall relativ mechanisch wirkte.
-- ,,Na, dass klingt doch äußerst vielversprechend!'', hatte Baumeister nach dem Vortrag zu Cedrik gesagt, während er ihm ermunternd auf die Schultern klopfte.
Auch Gumbrecht lobte Bellinger über den grünen Klee, bat aber Cedrik eine kurzes Resümee dazu zu verfassen.
Eine Stunde später fand Gumbrecht ebenso wie Wolff Cedriks Beurteilung: ,,Die Kammerherren, die das Recht hatten, die Schleppe zu tragen, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, daß sie nichts sehen konnten. So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: `Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!" Keiner wollte es sich merken lassen, daß er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen.' ''
Gumbrecht hatte Cedrik daraufhin unverzüglich angerufen. Beinahe väterlich beschwichtigend hatte er zu ihm gesagt, dass er nicht kindisch sein solle. Nein, kindisch sei er nicht, antwortete Cedrik. Aber das Kind fehle noch. Das Kind, welches den Mut hätte wie im Märchen mit den Fingern auf Bellinger zu zeigen und zu sagen, dass er nackt sei. Gumbrecht sagte, dass Cedrik einen Fehler mache. Im Märchen hätten ja alle gesehen, dass der Kaiser nackt sei, aber sich nicht getraut, etwas zu sagen. Bei Bellinger sei das doch anders. Außer Cedrik seien doch alle von Bellinger überzeugt. Das sollte ihm doch auch zu denken geben, wenn er der einzige sei, der an Bellinger zweifle.
Nach dem Vortrag und nach dem Gespräch mit Gumbrecht, durchkämmte Cedrik alles, was er im Internet über Bellinger finden konnte und war sich anschließend noch sicherer, dass es sich um einen Scharlatan handelte.
Während seines Urlaubs hatte er Bellinger völlig vergessen. Irgendwie hatte er gehofft, dass Bellinger kein Thema mehr sei, wenn er zurückkäme. Aber in Gumbrechts Büro hielt er die Studie in Händen, und starrte Gumbrecht fassungslos an, der nun von ihm löbliches hören wollte.
-- ,,Ich vermute, dass die Studie nicht das Papier wert ist, auf das sie gedruckt ist!'', sagte Cedrik, nachdem er kurz darin geblättert hatte.
-- ,,Schauen Sie es sich doch bitte einfach einmal unvoreingenommen und genau an!'', sagte Gumbrecht.
-- ,,Schauen Sie hier, direkt auf der ersten Seite: `Ziel dieser Studie ist es mit dem neuen Brown-Tashinen-Algorithmus den Durchsatz zu senken' Das trau ich Bellinger zu!''
-- ,,Das ist doch bloß ein Schreibfehler!''
-- ,,Ein SCHREIBFEHLER?'', entsetzte sich Cedrik, ,,auf der ersten Seite einer 50.000 Euro teuren Studie?''
-- ,,Jetzt seien sie doch mal nicht so kleinlich! Es kommt doch auf die Aussage an ...''
-- ,,Stimmt! Jan Gromski hat vor ein paar Jahren gezeigt, dass man den Brown-Tashinen-Algorithmus in der Praxis nicht einsetzen kann!''
Gumbrecht warnte Cedrik. Er würde sich selbst und auch Frauke Gortsworst schaden, wenn er die Studie schlecht machte, denn schließlich stamme die Spezifikation von ihnen und die Koordination der Studie hätte bei Cedrik gelegen. Wie hätte er etwas koordinieren können, von dem er noch nicht einmal gewusst hatte, dass es überhaupt stattgefunden hatte. Außerdem weilte er zu der Zeit in Nepal. Es könne ihm, warnte Gumbrecht erneut, von Wolff und von Baumeister so ausgelegt werden, als sei er nicht teamfähig genug und könne Aufgaben nicht richtig delegieren.
© Bernd Klein