Ameisenhaufen

-- ,,Wo bleibt ihr?'', ruft Wolff, der wieder auf dem Weg zurückgelaufen war. ,,Alle warten auf euch! Es kommt wieder ein Activity-Point!''

-- ,,Oh nein'', raunt Cedrik, ,,der vorige war peinlich genug gewesen. Wie im Kindergarten!''

Aber auch wenn Cedrik Gardas Ausführungen am letzten sogenannten Activity Point lautstark als Kindergartenniveau bezeichnet hatte, gab es ihm einen interessanten Denkanstoß, allerdings wohl nicht den beabsichtigten. Garda hatte die Gruppe wie eine Kindergärtnerin um einen riesigen Ameisenhaufen versammelt.

Wie ein großer Ameisenhaufen sei auch eine Firma, hatte Garda gesagt und Frauke hatte zu Cedrik gesagt, dass sie sich auch meistens genau so klein und hilflos vorkomme, so als könne sie jederzeit und jemandes Füße geraten. Jedes einzelne Individuum des Ameisenstaates wisse genau, was es zu tun habe und verfolge seine Aufgaben mit aller Konsequenz.

-- ,,Bis zum Tod, wenn nötig!'', sagte Cedrik mit einem hintergründigen Lächeln.

-- ,,Sonst funktioniert der ganze Staat nicht!'', hatte Gumbrecht eingewandt und niemand wusste, ob er nun wirklich einen Ameisenstaat meinte oder ob er vielleicht wieder bei den Etruskern und deren Staat weilte.

Wolff, der es diesmal nicht geschafft hatte, möglichst nahe bei Garda zu stehen, stand mit Willach im Hintergrund und schaute Willach bei Cedriks Bemerkung vielsagend grinsend an.

-- ,,Vielen Dank, Cedrik, für den konstruktiven Einwand!'', sagte Garda und fuhr dann unbeirrt fort.

Eine der Aufgaben bestehe in der Verteidigung des Ameisenstockes. Die Ameisensoldaten verteidigten den Ameisenstock, wenn nötig auch mit dem Einsatz ihres Lebens, gegen gefährliche Käfer. Dazu bissen sie diesen beispielsweise die Antennen ab. Die Königin lege Eier, das sei ihre eigentliche und einzige Aufgabe. Ein Teil der Arbeiterinnen sei damit beschäftigt die Larven im Stock zu versorgen. Um die optimale Feuchtigkeit und Temperatur zu erhalten, trügen sie die Larven immer wieder im Stock herum. Außen gäbe es auch vielfältige Aufgaben für die Ameisen. Dann begann sie ausgiebig über die die Aufgabe des Blattlausmelkens zu referieren. Die phantastische Symbiose zwischen Blattläusen und Ameisen, wie zwischen Bauern und den Kühen. Blattläuse geben den Ameisen Milch und diese schützen sie im Gegenzug vor ,,gefährlichen'' Raubtieren wie Marienkäfern. Sie sprudelte vor Begeisterung, so als habe sie diese Tatsache gerade selbst erst erfahren und nicht bereits im Kindergarten oder der Grundschule. Aber ihre Begeisterung schien sich nur auf Gumbrecht, was niemanden wunderte, und, was alle wunderte auf Burbacki zu übertragen. Vielleicht hoffte Burbacki unbewusst, dass je länger sie redete er desto weniger zu laufen habe. Als sie über die mit der Erschließung neuer Futterquelle spezialisierten Arbeiterinnen zu sprechen kam, wurde sie auch von Sylvia unterbrochen, die schon wiederholt Hunger angemeldete hatte. Während Garda über den Ameisenhaufen referierte, hatte sie sich mit Hilfe eines winzigen Spiegels mit ihrem Lippenstift ihre Lippen neu gerötet.

-- ,,Wie unser Vertrieb!'', sagte Sylvia lachend.

Gumbrecht räusperte sich und alle glaubten, dass nun etwas über die Etrusker käme, aber Gumbrecht sprach dann wirklich von den Ameisen. Ob sie denn wisse, wie die Futtersuche vor sich gehe, fragte er sie. Klar, sie schwärmten nach allen Seiten aus und wenn welche Futter gefunden hätten, dann teilten sie es den anderen mit.

-- ,,Richtig,'', pflichtete ihr Gumbrecht bei, und es war allen klar, dass er jetzt ins Detail ginge ,,sie schwärmen in verschiedene Richtungen aus. Wenn eine Ameise Futter gefunden hat, kehrt sie sofort zum Stock zurück, auf dem schnellsten Weg. Dabei legt sie Duftstoffe, sogenannte Pheromone. Das ist das entscheidende. Die Ameise, die als erstes zurückkommt, hat die am nächsten liegendste Futterquelle gefunden und nun kommt das entscheidende: Ihre Markierungen des Weges sind als erstes dar. Kurz nachdem die ersten Ameisen los sind, schwärmt nämlich der nächste Trupp aus. Die ersten Duftmarken, die gefunden werden können, stammen von der erfolgreichsten Ameise des ersten Trupps. So landen automatisch mehr und mehr bei der optimal gelegenen Futterquelle.''

-- ,,Sehr schön!'', lobte Garda Gumbrecht, der sich Beifall heischend in der Runde umgesehen hatte.

Aber wenn Garda gehofft hatte, Gumbrecht so einfach bremsen zu können, so hatte sie sich getäuscht. Kürzlich habe er einen interessanten Artikel über Ameisen gelesen. Wenn man zum Beispiel 1000 Ameisen aus einem Haufen entnehme, entstehe ein instabiles Gleichgewicht. Aber alle Tiere trachteten sofort danach, wieder einen Gleichgewichtszustand herzustellen. Nach relativ kurzer Zeit sei wieder alles in Ordnung. Als Gumbrecht dann begann über die physikalischen Zusammenhänge zwischen stabilen, instabilen und labilen Gleichgewichten zu dozieren, unterbrach ihn Garda und sagte, dass dies sicherlich fürchterlich interessant sei, aber möglicherweise würde dies die meisten wohl nicht interessieren.

-- ,,Aber, was mich noch interessiert, ist die Frage, was passiert, wenn man die 1000 Ameisen wieder in den Haufen zurückbringt, nachdem ein neues Gleichgewicht entstanden ist?'', fragte Cedrik.

Oh, habe er das vergessen zu sagen, wunderte sich Gumbrecht und schaute Cedrik dabei dankbar an, dass er ihm diesen Ball zugespielt hatte. Also das sei ganz faszinierend. Es entstehe wieder ein instabiles Gleichgewicht, sagte Gumbrecht und schaute dabei ängstlich in Richtung Garda. Aber innerhalb kurzer Zeit wären die Tausend wieder reintegriert.

-- ,,Ist doch klar! Ich hätte nichts anderes erwartet!'', sagte Wolff.

-- ,,Was heißt hier nichts anderes erwartet? In einer großen Firma sieht das ganz anders aus!'', sagte Cedrik nun triumphierend. ,,Ein großer Konzern, wie der unsere kann relativ leicht 1000 Leute rausschmeißen, aber 1000 Leute wieder einstellen, dass sei wohl eher ein Märchen!''

Das sei doch nur als Metapher gemeint gewesen, wehrte sich Garda, und solche Übertragungen bergen immer ihre Probleme.

-- ,,Was mich am meisten an dem Bild stört: Bei uns Menschen können prinzipiell alle Frauen Kinder kriegen ...'', sagte Frauke und ignoriert, dass Wolff etwas zu Willach tuschelte und anschließend beide laut lachten. ,,Wir haben und brauchen keine Königin.''

-- ,,Wären wir ein Ameisenstaat, brauchten wir keine Chefs, jedenfalls nicht in der Form, wie wir sie bisher haben.'', sagte Cedrik sarkastisch.

-- ,,Sie reden von unserer Firma?'', fragte Willach und man sah ihm an, dass er sich angegriffen fühlte.

-- ,,Ja auch, aber eigentlich meinte ich alle. Wenn Betriebe schon hierarchisch organisiert sein müssen, dann sollen die Chefs wenigstens demokratisch legitimiert sein. Schaut doch einmal richtig auf den Ameisenstaat: Hier läuft alles automatisch, ohne Bevormundung und Zwang. Die machen immer ...''

-- ,,Oh, die Ameisen wählen also ihre Chefs!'', sagte Wolff hönisch.

-- ,,Nein, die haben erst gar keine!'', entgegnete Cedrik.

-- ,,Und Ihrer Meinng nach hätten wir am besten auch keine Chefs?'', höhnte Wolff weiter.

-- ,,Nein, man sollte sie demokratisch wählen!''

Wolff fing laut an zu lachen und sagte: ,,Da sollen sich also die Mitarbeiter das Management wählen. Die verstehen doch nichts! Die würden die wählen, die ihnen den meisten Lohn versprechen!''

Darauf stimmte auch Willach in Wolffs schallendes Gelächter ein. Ansonsten fühlte Cedrik viele verständnislose Blicke auf sich gerichtet. So als habe er eben gesagt, er wolle einen Staatskommunismus errichten. Dennoch ließ sich Cedrik nicht beirren.

-- ,,Aber trotz dass die Leute Ihrer Meinung nach so dumm sind, sind Sie sich sicher, dass die Demokratie die beste Staatsform ist?'', ereiferte sich Cedrik und während er es sagte, sah er, dass die beiden es nicht so sahen. Wolff und auch Willach waren keine überzeugten Demokraten, aber Cedrik fuhr dennoch fort, ,,Wählen denn in der Demokratie nicht auch die Leute immer nur die Politiker, die ihnen die geringsten Steuern und die meisten Segnungen versprechen ...ohne Rücksicht auf das Wohl des Gesamten?''

-- ,,Stimmt genau! Es wäre besser wenn nur die wählen dürften, die auch etwas davon verstene!'', sagte Wolff.

-- ,,Und wer bestimmt dann, wer wahlmündig ist? Leute wie Sie?'', sagte Cedrik und sein `Leute wie Sie' klang voller Verachtung und wie eine Beleidigung.

Garda mischte sich plötzlich beschwichtigend in die Diskussion. Man sei vom Thema, also Prokrastination, abgekommen. Was sie eigentlich hätten erkennen sollten, sei die Tatsache, wie perfekt ein Ameisenhaufen funktioniere. Sie hätten erkennen sollen, dass eine Organisation ohne Aufschieberei perfekt funktioniere. Der Ameisenstaat funktioniere so perfekt, weil jedes einzelne Individuum, genau das mache, was die Gemeinschaft von ihm verlange.

-- ,,Von IHR verlange!'', korrigierte sie Frauke, ,,es sind doch Arbeiterinnen!''

Cedrik entgegenete, dass er es anders sehe. Sie hätten doch eben gelernt, dass die Arbeiterinnen anscheinend auf Geratewohl ausschwärmten. Man könne also genausogut annehmen, dass sie dorthin liefen, wohin sie wollten, und dass der Ameisenstaat deshalb so effizient sei, weil er seinen Arbeiterinnen diese Freiheit ließe.

-- ,,Das ist doch blanker Unsinn!'', ereiferte sich Willach, ,,Ameisen haben gar kein Hirn, um einen eigenen Willen zu entwickeln.''

Ohne auf Willachs Einwand zu hören, attackierte Wolff Cedrik parallel:

-- ,,Also soll man bei uns auch die Entwickler machen lassen, wozu sie gerade Lust haben, und dann geht es der Firma prächtig!''

-- ,,Vielleicht nicht ganz so extrem, aber im Prinzip ja!'', entgegnete Cedrik, ,,Bei Google wird zum Beispiel jeder Mitabeiter dazu angehalten selbständig nach Belieben zu seiner normalen Arbeit etwas zu forschen oder zu entwickeln, was er für wichtig findet.''

-- ,,Und in dem Büro, aus dem es dann am meisten duftet,'' platzte es schallend lachend aus Lutz Willach ,,findet sich die reichste Futterpfründe.''

-- ,,Faulheit stinkt halt!'', kommentierte Sylvia.

Gumbrecht nahm plötzlich Cedrik in Schutz, indem er sagte, dass er nicht ganz Unrecht habe. Ein guter Chef müsse seinen Entwicklern Freiraum lassen, wenn er hervorragende Ergebnisse wolle.

-- ,,Dann hat er ja Glück, dass er bei Ihnen in der Abteilung ist!'', sagte Wolff spöttisch.

-- ,,Wie der Herr so sein Gescherr!'', sagte Willach leise zu Wolff.

© Bernd Klein