Der Sturm

Finstern und bleiern lag das Meer vor Garda. Aber weiter oben, dort wo sich meist nur Verliebte hin zurückziehen, um sich den direkten Blicken der Badegäste zu entziehen, zeugte der nasse Sand davon, dass das Meer mit gigantischen Wellen kürzlich hier gewesen sein musste. Den ganzen Strand entlang hatte das tosende Meer mit Unrat eine schier endlose Linie gezeichnet. Ein mehrere Meter breiter Streifen aus Algen und Gestrüpp, durchsetzt mit Wohlstandsmüll und Holzplanken, die es am Strand gesammelt oder vom Meeresboden hervorgeholt hatte, wo sie zuvor scheinbar für die Ewigkeit verankert schienen. Zu wild war das Meer gewesen, als dass sie wirklich noch hoffen konnte, aber dennoch durchkämmte Garda mit ihren Blicken das tief schwarze undurchdringlich scheinende Wasser. Gegen den tiefgrauen fast schwarzen Horizont, kaum heller als die See, würde sie in der Ferne wohl kaum einen Öltanker erkennen geschweige denn einen Schwimmer.

Garda stand alleine an der Wasserkante. Die nunmehr wieder sanften Brandungswellen umspielten ihre Waden und ab und zu ihre Knien. Das Wasser erschien ihr deutlich kühler als vorher. Enrico musste völlig unterkühlt sein, so lange wie er nun schon im Wasser war, durzuckte es sie. Francesco und Paolo hatten ihr versichert, dass sie bis zu diesem Unwetter mit Enrico zusammen gewesen seien. Während des Sturmes hätten sie allerdings nichts mehr voneinander sehen oder hören können, hätten nur noch um ihr eigenes Leben gekämpft, sagten die beiden Männer, kurz nachdem sie sich völlig schlapp aus dem Meer gezogen hatten. Marina und Allegra mussten ihre völlig erschöpften Freunde auf dem Weg zum Feuer stützen.

Garda war wieder ein kurzes Stück ins Meer hinausgeschwommen und getaucht, aber sie musste nochmals wie die vorigen Male die Sinnlosigkeit erkennen. Die anderen saßen mittlerweile am Feuer. Marina und Allegra schmiegten sich von hinten an ihre Freunde, um sie zu wärmen und ihrer Liebe zu vergewissern. Unten vom Meeressaum aus schienen sie zu schweigen.

Garda ging, so als wäre sie damit näher an Enrico oder könne ihn besser sehen, ein paar Schritte ins Meer bis sie beinahe hüfttief im Wasser stand. Sie peinigte sich mit Vorwürfen, weil sie Enrico zurückgelassen hatte. Dabei half es nichts, wenn sie sich damit zu verteidigen suchte, dass er ja nicht alleine gewesen war, dass Francesco und Paolo in seiner Nähe gewesen waren. Auch wenn die beiden extrem sportlich waren, so konnte deren Kraft nicht ihre mangelnde Schwimmtechnik wettmachen. Sie waren miese Schwimmer, ungewöhnlich für Männer, die so nahe am Meer groß geworden sind. Die beiden hatten alle Mühe gehabt, sich selbst zu retten. Nein, sie hätte bei ihm bleiben müssen, denn schließlich war sie die bei weitem beste Schwimmerin der Gruppe. Ihr Name war sogar schon mal unter den ersten zehn der italienischen Schwimm-Meisterschaften zu finden gewesen und einmal hatte sie sogar in einem internationalen Wettkampf den ersten Platz über 800 Meter Freistil errungen. Aber hätte sie ihm wirklich helfen können? Hätte sie es in dieser Dunkelheit und in dem hohen Wellengang überhaupt bemerkt, wenn er plötzlich lautlos neben ihr untergegangen wäre? Selbst wenn er geschrien hätte, wären seine Schrei nicht in dem tosenden Meer und dem heulenden Sturm unhörbar verhallt? Wie hätte sie überhaupt in dem pechschwarzen Wasser nach ihm tauchen können? Sie hätte ihn nicht sehen können.

So wie sie ihn auch jetzt nicht sehen konnte. Bloß keine Panik, versuchte sie sich zu beruhigen, Enrico ist ein guter Schwimmer und würde sicherlich bald kommen. Er könnte abgetrieben worden sein und weiter südlich an Land gegangen sein. Sie stellte sich vor, dass er von hinten käme, sie umarmte und lachend fragte, wen oder was sie denn im Meer suche. Er sei so weit abgetrieben worden, dass er sich ein Taxi habe nehmen müssen. So lebhaft war ihre Vorstellung, dass sie sich unwillkürlich umdrehte und enttäuscht den Strand absuchte. Aber außer den anderen am Feuer war dort niemand in der Dunkelheit zu sehen. Aber was wäre, wenn die Strömung ihn ins Meer gezogen hätte? Dann hätte er kaum mehr eine Chance, denn schon nur ein Kilometer gegen eine starke Strömung anzuschwimmen war kaum möglich.

Auch wenn sie sich immer wieder sagt, dass Schuldzuweisungen sie nicht weiterbringen und vor allen Dingen Enrico nicht helfen konnte, spürte sie plötzlich eine Wut gegen Marina in ihr aufsteigen. Sie war Schuld gewesen. Marina war widersprüchlich; immer, nicht nur in dieser Nacht. Obwohl sie sich vor allem zu fürchten schien, suchte sie gleichzeitig die Gefahr. Sie war es gewesen, die den Vorschlag gemacht hatte, schwimmen zu gehen, nachdem sie noch kurz zuvor bemerkt hatte, dass das Meer irgendwie unheimlich und bedrohlich bei Nacht wirke. Unverständlich auch, dass gerade sie, die noch niemals oben-ohne am Strand gelegen hatte, so wie ihre Freundinnen es häufig taten, es in dieser Nacht überhaupt nicht störte, dass sie dann sogar völlig nackt schwimmen müssten, da sie ja keine Badesachen dabei hatten. Schwimmen war nicht geplant gewesen, denn sie waren ganz spontan mitten in der Nacht zum Strand gefahren, um dort die laue sternenklare Sommernacht mit gutem Wein zu genießen.

Diese spontane nächtliche Strandparty war wie ein vorgezogenes kleines Abschiedsfest. Eigentlich feierten sie nochmals in privater Runde ihr bestandenes Abitur, oder Maturità, wie es in Italien genannt wird, aber nach den Sommerferien würden ihre Wege trennen. Es war ein Abschied und ein Neubeginn. Garda würde ganz in der Nähe bleiben; sie würde in Siena Geschichte und Geschichte der Wissenschaften studieren. Allegra würde in Florenz eine Hotelfachschule besuchen und dort wahrscheinlich auch die meisten Wochenenden verbringen. Marina hatte sich an der Universität Bologna in Psychologie eingeschrieben. Bologna hatte sie gewählt, weil dort ihr Freund Francesco schon seit vier Semestern anorganische Chemie studiert. Das Studienfach hatte sie, wenn sie es sich auch nicht eingestand, ausgesucht, um ihre eigenen Ängste und Widersprüchlichkeiten besser verstehen und meistern zu können. Ihre Wege würden sich nun trennen, nachdem sie fünf Jahre lang, also von Anfang an, gemeinsam das Liceo, ein humanistisches Gymnasium, besucht hatten. Die Schule, oder genauer gesagt ihre Antipathie gegen diese Institution, war eines der verbindenden Element ihrer Freundschaft. Wie Treueschwüre wetterten sie jahrelang gegen die gleichen Lehrer, versicherten sich gegenseitig in ihrer Abscheu gegen die sinnlosen Lerninhalte und darin, dass sie dennoch gemeinsam die Maturità ablegen würden, den Umständen zum Trotz. Es war als hätten sie sich irgendwann stillschweigend verabredet, so wenig wie möglich zu lernen, aufzuschieben, was immer sich aufschieben ließ. In dieser Disziplin waren sie äußerst erfolgreich, aber dennoch litten sie unter ihrem Verhalten. Zum Beispiel als die Lehrer schon in der ersten Klasse die Mädchen im allgemeinen für ihren Fleiß lobten, sie als strebsamer als die Jungs lobten, waren sie von dieser Würdigung ausgeschlossen. Jungs seien meistens faul, aber auch bei den Mädchen gäbe es Ausnahmen. Dann schauten sie fast immer unverhohlen auf die drei. Bei den Elternabenden lief es ähnlich, nur dass dann ihre Mütter als Blickfang dienten.

Marina war Schuld gewesen, dass sie nicht bei Enrico im Meer geblieben war. Mit Marinas Scherzen hatte alles angefangen. Was wäre, wenn plötzlich ein Seeungeheuer käme und sie und die anderen in die Tiefe risse? Niemand würde es kommen sehen. Man könne nichts sehen in dieser finsteren Brühe. Man wisse kaum mehr wo oben und unten sei. Dann als Francesco unter sie zwischen ihre Beine tauchte, um ein Meeresmonster vorzutäuschen, geriet sie unvermittelt in Panik vor den von ihr selbst geschaffenen Fantasien. Statt zu schwimmen zappelte sie plötzlich wie irr und begann Wasser zu verschlucken. Garda konnte sie nur mir Mühe beruhigen und begleitete sie zum Ufer, während Allegra ihnen folgte. Aber die Jungs, so als gelte es eine Mutprobe zu bestehen, trieb es noch weiter hinaus aufs Meer, während Garda mit ihren Freundinnen Richtung Ufer schwamm.

Kaum hatten die Mädchen in der Dunkelheit das Meer verlassen, während ihre Freunde noch draußen im Wasser schwammen, hüpfte Marina, die zuvor noch so ängstlich gewesen war, übermütig um das Feuer und protzte mit dem, was sie von der Schule behalten hatte:

-- ,,Siech er, schwind er, schrumpf er ein!

Wird auch nicht sein Schiff zerschmettert,

Soll's doch bleiben sturmumwettert!''

Wie als Antwort auf ihre Verwünschungen, schob sich plötzlich eine Wolke, die aus dem Nichts zu kommen schien, vor den Mond. Tiefschwarze Nacht und unvermittelt wehte ein eisiger Wind vom Meer, so als habe jemand die Türe zu einer kosmischen Kühlkammer geöffnet. Ein Wind, der sich in wenigen Sekunden zu einem Sturm steigerte und haushohe Wellen schlimmer als in einem Herbststurm produzierte. Sie pressten ihre Hände und Arme vor ihre Augen, um sich vor den vom Sturm hochgepeitschten Sandkörnern zu schützen. Zahlreiche Blitze durchzuckten die Dunkelheit, ließen den Strand wie im Licht eines Stroboskopes flackern. Aus Furcht warfen sich alle drei in den noch warmen Sand und wagten kaum an ihre sich noch immer im Meer befindlichen Freunde zu denken.

Ebenso unvermittelt, wie der Sturm begonnen hatte, hatte er sich wieder gelegt. Kurze Zeit darauf waren Francesco und Paolo völlig erschöpft, wie Schiffsbrüchige, an den Strand gerobbt.

-- ,,Vielleicht ist Enrico abgetrieben worden ...also ich meine nicht in Meer sondern dass er an anderer Stelle an Land ging.", sagte Paolo, der sich wieder bestens von der Strapaze erholt hatte.

Garda schreckte zusammen, sie hatte gar nicht bemerkt, wie ihre Freunde zu ihr gekommen waren.

-- ,,Dann müsste er aber auch schon hier sein ...Wir müssen Hilfe holen.'', sagte Garda, ,,Es war ein Fehler. Wir haben viel zu lange gewartet.''

Kaum hatte Francesco mit seinem Handy die Polizei verständigt, als Garda aufgeregt auf einen Punkt in der Ferne zeigt.

-- ,,Dort. Schwimmt da nicht was? Es bewegt sich ...'' sagte Garda aufgeregt und schrie dann ,,Enrico, Enrico''.

Ohne zu zögern, reißt sich Garda ihr T-Shirt vom Leib und springt ins Wasser.

© Bernd Klein